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Gustl Mollath, 57, wurde am Montagmorgen vor dem Landgericht Regensburg von seinen Unterstützern begrüßt.

© David Ebener/dpa

Gustl Mollath vor Gericht: Irrsinn und Irrtum

Angeklagter – das war er mal. Heute ist Gustl Mollath eher ein Original, eine Marke. Einer, der die Fesseln sprengte, an die der Staat ihn gekettet hatte. Ein Jahr nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie steht er wieder vor Gericht. Und will hier eine Rechnung begleichen.

Für einen, der gesagt hat, er wolle austreten aus dem Rechtsstaat, steckt Gustl Mollath ziemlich tief drin. Es ist Montagmorgen, der herbeigesehnte Tag. Vor dem Landgericht Regensburg drängen sich Neugierige und Unterstützer, einige hatten dort campiert. Jetzt, nach Jahren des Kampfes, soll sich dort seine Unschuld erweisen. Mollath hat die Wiederaufnahme seines Verfahrens erreicht.
Ein Angeklagter? Das auch, aber das war einmal. Heute ist er eher Mollath, das Original. Mollath, die Marke. Einer, der die Fesseln sprengte, an die der Staat ihn gekettet hat. Der von dem psychiatrischen Schafott, auf das ihn seine korrupte Ex-Frau führte, wieder herunterklettern konnte.
Er ist so. Die, die ihn kennen, sagen: so wie immer. Überpünktlich betritt er den Saal, dunkelblauer Anzug, goldene Knöpfe, weißer Kragen, rote Krawatte. Links einen Bioladen-Beutel in der Hand, rechts eine Sporttasche, darin Ordner in Stoffsäcken. Sein Verteidiger Gerhard Strate hat den Laptop, er die Akten. Es ist sein Prozess. Er wird ihn sich nicht nehmen lassen.
Die Vorsitzende Richterin Elke Escher ist eine freundliche Frau. Sie erklärt viel. Alle sollen verstehen, worum es geht. Eine Transparenzoffensive im Namen von Bayerns Justiz, späte Fürsorge für einen Vernachlässigten.
Mollaths Ex-Frau Petra M., die einstige Hauptbelastungszeugin, hat die Aussage verweigert. Sie sollte am ersten Tag vernommen werden. Richterin Escher erläutert, was dies bedeutet: dass ihre Aussagen, auch die alten, nicht ohne Weiteres verwertet werden dürfen. Dass aber Polizisten und Staatsanwälte über die Vernehmungen reden dürfen und Petra M. nichts dagegen hat. Dann belehrt Escher die Sachverständigen, darunter den Münchner forensischen Psychiater Norbert Nedopil. Er soll Mollath, der jede Exploration verweigert, im Prozess beobachten. Sie fragt, ob alle damit einverstanden sind.

Mollath bestreitet die Taten

„Entschuldigung, dürfte ich was sagen? Bei mir besteht kein Einverständnis“, sagt Mollath. „Ich bitte, dass Professor Nedopil den Raum verlässt. Auch jetzt schon.“ Doch erst die Personalien. „Ich habe keinen festen Wohnsitz, aber man kann mich sicher erreichen, ich habe einen Freund. Wenn es ein Problem gibt, muss man mich nicht festnehmen. Ich werde an allen Prozesstagen teilnehmen.“ Oberstaatsanwalt Wolfhard Meindl liest die alten Anklageschriften vor. Mollath soll seine damalige Frau geschlagen, getreten, gebissen und bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt, zudem gegen ihren Willen in der Wohnung festgehalten haben. Auch soll er Reifen an Autos so zerstochen haben, dass die Schäden nicht gleich erkennbar waren. Ausgewählt hatte er laut Anklage die Wagen von Leuten, die privat oder beruflich mit der Trennung des Paares zu tun hatten. Die angeblichen Taten liegen Jahre zurück, Mollath bestreitet sie. Er erstattete ebenfalls Anzeigen, vergeblich. 2006 sprach ihn eine Kammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth unter Vorsitz von Richter Otto Brixner frei und schickte ihn in die Psychiatrie. Brixner wird in diesem Verfahren als Zeuge erwartet.

Dass Mollath getan hat, was man ihm vorwirft, davon war die Kammer überzeugt. Ebenso wie von seinem Wahn, den ein Gutachter bestätigte. Seine Verteidigungsschrift, ein Konvolut von mehr als 100 Seiten, das unter anderem den Putsch des ugandischen Diktators Idi Amin, die Mondlandung, Vietnam, Kennedy und den Krebstod seines Vaters behandelte, dürfte ein Übriges beigetragen haben. Dass Angestellte der Bank mit seiner Frau kooperiert und Geld in die Schweiz transferiert haben sollen, war dort auch zu lesen, ging aber unter.

Eine Seltenheit in Deutschland

Anwalt Strate will es jetzt verhandelt wissen, als Beleg dafür, dass sein Mandant die Wahrheit spricht. Er will Urkunden verlesen und Zeugen vernehmen lassen, Ex-Kollegen von Petra M., die als Geldkurier tätig gewesen sei, die Rede ist von mindestens 30 Millionen D-Mark. Die Frau solle ihre Entscheidung, die Aussage zu verweigern, revidieren, fordert Strate. „Wir waren auf den Auftritt von Frau M. vorbereitet.“ Nun möge sie das Ungemach, das ihr ein solcher Auftritt bereite, abwägen gegen das Ungemach, das sie ihrem Mann bereitet habe. „Wenn sie dann bei ihrer Aussage bleibt, mag das juristisch in Ordnung sein. Moralisch ist es das nicht. Moralisch ist es eine Zumutung.“ Wie die Richterin bemüht sich auch Ankläger Meindl nach Kräften, einen besseren Eindruck der Gerichtsbarkeit zu hinterlassen, als ihn die Öffentlichkeit am Beispiel des Falls bekommen hat. Also bügelt er den Antrag nicht gleich ab, wenngleich alle Ansätze, den von Mollath behaupteten „riesigen Schwarzgeldskandal“ nachzuweisen, bisher im Sande verliefen. Die von Strate benannten Beweismittel seien unerheblich für die Frage, ob Mollath die Taten begangen habe, sagt er. Sie könnten aber eine Rolle spielen für die Glaubwürdigkeit von Petra M. und die Mollath unterstellte Paranoia. Da solle sich das Gericht besser erst später entscheiden. Meindl spricht in gedrechselten Sätzen, Typ abwägender Aufklärer. Wie sehr ihm hier alles auf die Nerven geht, wird nur kurz deutlich, als er einen Zuschauer anherrscht, der wegen des Unterstützer-Getrommels vor dem Gericht nichts verstehen kann. Letztlich wollte nicht nur Mollath diesen Prozess, auch der Freistaat Bayern wollte ihn. Meindl musste ihn wollen. Im Sommer letzten Jahres beschließt das Oberlandesgericht Nürnberg einen Neustart. Die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Urteils. Eine Seltenheit in Deutschland. Wenn Schluss ist, ist sonst Schluss. Eine Wiederaufnahme braucht neue Beweise oder den Nachweis, dass alte falsch waren. Anwalt Strate setzte sogar noch einen drauf und warf der Kammer Rechtsbeugung vor.

Hinter den Freispruch kann die Kammer nicht zurück

Wo sonst Verzweifelte gegen Wände laufen, öffnete sich für Mollath das Hauptportal. Nürnbergs Generalstaatsanwalt Hasso Nerlich wurde im November angewiesen, ebenfalls eine Wiederaufnahme zu beantragen. Bayerns Regierende wollten das Thema vom Tisch haben. Nerlich konnte es kaum glauben, dass er politischen Druck bekam. „Erstmals in meinem Leben“, sagte der Jurist später vor dem Mollath-Untersuchungsausschuss im bayerischen Landtag. Aber er ist, wie sein Untergebener Meindl, ganz Beamter, sucht und findet den Fehler in einem unzureichend unterschriebenen ärztlichen Attest. Und die Rechtsbeugung? Er wolle sich nicht „des Straftatbestands der üblen Nachrede schuldig“ machen, erklärte damals Meindl. So kam es zum neuen Verfahren, in dem Mollath wenig zu befürchten hat. Die Wiederaufnahme eines Strafverfahrens funktioniert ähnlich wie der Verbesserungsversuch bei einer Prüfung: Die Strafe darf nicht härter werden, als sie einmal war. Mollath wurde freigesprochen, weil er schuldunfähig war. Hinter diesen Freispruch kann die Kammer jetzt nicht zurück. Eine erneute Einweisung in die Psychiatrie ist unwahrscheinlich. Dafür müsste sich das Gericht nicht nur überzeugen lassen, dass Mollath damals im Wahn handelte, sondern auch davon, dass er anhaltend gefährlich ist. Dafür gibt es keinen Hinweis.

Mollath, der Entrechtete

Eigentlich ein normaler Mann mit normaler Karriere. Mollath, heute 57 Jahre alt, macht nach der Waldorfschule das Fachabitur, das zweitbeste seines Jahrgangs. Ein Maschinenbau-Studium bricht er ab, arbeitet bei MAN im Controlling, gründet eine Kfz-Werkstatt, restauriert Oldtimer. 1978 lernt er seine spätere Frau kennen, heiratet sie 1991. Sie, die in der Bank gutes Geld verdient, steckt einiges davon in sein Unternehmen, er kommt nicht auf die Beine, verbohrt sich in Rechtsstreitigkeiten. Seit 2005 ist das Paar geschieden. Nach den Schilderungen der Ex-Frau hat sie viel über sich ergehen lassen, nicht nur die angeklagten Taten. Damals glaubte man ihr. Heute steht sie als Lügnerin da. Die Wende bringen Recherchen einer Lokalzeitung, die große Medien im vergangenen Jahr aufgreifen. Plötzlich sieht es so aus, als sei wahr, was Mollath immer behauptete: dass seine Frau in Schwarzgeldgeschäfte verwickelt ist und den Mitwisser mundtot machen wollte. Es wird ein Bankbericht bekannt, der dies nahelegt. Mollaths angeblicher Irrsinn, er erscheint als Irrtum der anderen. Im Schatten der bayerischen Landtagswahl schwillt das Thema zum Politikum. Mollath, der Entrechtete; Symptom für die Krankheit eines ganzen Systems.

Seitdem wandelt Mollath trittsicher durch Talkshows, trifft Journalisten, kokettiert mit seiner alten Diagnose. Im Dezember spaziert er im Geleit der „Süddeutschen Zeitung“ über den Nürnberger Christkindlesmarkt, an seinem Anorak ein Button mit König Ludwig II. Man müsse doch „auch mal was davon haben, wenn man schon offiziell für verrückt erklärt worden ist“. Die Leute bestaunen ihn wie ein Weihnachtswunder. Er hat sich in die Rolle eingefunden. Ihm gehört die Aufmerksamkeit. Ihm wird zugehört, auf ihn wird gewartet. All das, was er in den Jahren in der Klinik vermissen musste, bekommt er jetzt im Übermaß. Er begegnet dem abwechselnd mit Gleichmut und Fixiertheit, die er zuweilen ironisch bricht. Er bittet die Richterin, bevor er etwas sagt, trinken zu dürfen, fummelt ein Plastikglas aus einer Tüte, füllt Wasser ein. Inszeniert so eine Nebensache als Hauptsache, die im Saal alle verfolgen. „Da ist Leitungswasser aus Regensburg drin“, sagt er dann und löst damit die Spannung, die er selbst aufgebaut hat. Wenn er spielt, spielt er gut. Solche Witzeleien lassen ihn kurz als einen erscheinen, der über den Dingen steht, doch dann wird es schnell wieder ernst. Er will als Betroffener wahrgenommen werden, mindestens, besser noch als Bedrohter. Reden will er nicht, solange Psychiater Nedopil ihm schräg gegenübersitzt, sagt er. Der Arzt sei für ihn „wie ein Damoklesschwert“, mehr noch: „Er löst Kriegstraumata aus.“

Er begutachtet sich jetzt selbst

Statt sich begutachten zu lassen, begutachtet Mollath sich im Gerichtssaal jetzt selbst: Es könne sogar so weit kommen, „dass in meiner Person keine Verhandlungsfähigkeit vorliegt“. Denn irgendwann am Ende öffne sich die „Wundertüte“ der psychiatrischen Erkenntnis und „erklärt als krank, was vollkommen nachvollziehbar ist“. Mollath attestiert sich lieber einen „untadeligen Lebenswandel“ und „keine Suizidgefahr“. Spricht so ein Verrückter? Auch von der Topfpflanze, mit der in der Hand er damals die Klinik verließ und ein skurriles Bild abgab, weiß man nun, er züchtete sie aus Orangenkernen. Ihre Silhouette schmückt mittlerweile die Unterstützer-Webseite. „Meine Mitgefangene“, so beschreibt er die enge Verbindung zum Gewächs, deren sorgfältiges Umtopfen wiederum neben Journalisten noch zwei Studentinnen der Münchner Filmhochschule dokumentieren durften. Das Kunstprojekt wird als Bühnenstück im Spielplan des Würzburger Mainfranken-Theaters mit diesen Worten angekündigt: „In seinem Kampf um Gerechtigkeit verliert er sich in den Untiefen eines scheinbar aberwitzigen Rechtssystems.“

Er selbst erwägt ein Buch. „Die Bandbreite möglicher Willkür muss einfach dargestellt werden.“ Verteidiger Strate sucht die Abrechnung mit der Psychiatrie, vor allem der forensischen, wo Gutachter Nedopil doch selbst dem eigenen Fach vorwerfe, sich in den meisten Fällen zulasten der Patienten zu irren. Er habe „abgrundtiefes Misstrauen, wenn nun ein Zucken seiner Augenbrauen als Anknüpfungspunkt für eine psychiatrische Bewertung genommen wird“. Nedopil darf dennoch bleiben, entscheidet das Gericht und lässt offen, ob es die angebotenen Schwarzgeld-Zeugen noch hören will. Am Ende der Verhandlung, vor dem Saal, klagt Mollath wortreich über die ihn belastende Anwesenheit Nedopils, die ihn jeder angemessenen Verteidigung beraube. Vielleicht sagt Mollath nichts zu den Vorwürfen. Aber schweigen wird der Angeklagte gewiss nicht in diesem Verfahren.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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