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Waltraud Gennies wurde im Memelland, im heutigen Litauen, geboren. Für ihren Ehemann ging sie freiwillig in die DDR.

© privat/Gennies

Kampf gegen Demenz: Das vergessene Leben

Tagebücher, Briefe, Akten: Erst nach zehn Jahren hat sich unser Autor getraut, die Unterlagen seiner heute schwer dementen Großmutter zu lesen. Sie erzählen die Geschichte ihres Kampfes gegen die Krankheit - und die, eines Lebens, über das sie nie sprechen wollte.

Ob sie weiß, wie sehr sie dagegen gekämpft hat? Wer weiß schon, was sie überhaupt noch fühlt. Waltraud, 81 Jahre alt, geborene Babies, liegt im Bett, die Augen offen und leer. Ihr Blick richtet sich auf den kleinen Röhrenfernseher, im Bayerischen Rundfunk läuft eine alte Dokumentation über die Serengeti. Es ist Sonntag, später Nachmittag. Die Uhr an der Wand ist 20 Minuten vor eins stehen geblieben. Zeit spielt keine Rolle mehr.

Wichtig ist nur, wann Abführtag ist, und der ist nicht heute, der ist erst morgen. So lange geht es nicht so gut mit dem Aufrechtsitzen, liegt sie eben. Essen, schlafen, abführen - das ist der Takt ihres Lebens.

Waltraud ist meine Oma, aber daran erinnert sie sich nicht, denn Waltraud ist dement.

Demenz ist laut Definition „eine Minderung der geistigen Fähigkeiten, die schwerwiegend genug ist, um das tägliche Leben zu beeinträchtigen“. Waltraud zum Beispiel hat vergessen, wie man isst, wie man spricht und wer sie ist. Sie wurde besiegt von ihrer größten Furcht.

Waltraud wusste, wie grausam Demenz einen Menschen verändert. Im Nachlass meiner Uroma, die ebenfalls dement war, hatte Waltraud einst einen an sie adressierten Zettel gefunden: „Gott wird dich strafen!“ Obwohl sie wusste, dass es die Krankheit war, die aus ihrer Mutter sprach, hat Waltraud das damals getroffen - nach allem, was sie gemeinsam durchlebt hatten.

Von diesem Leben hat sie mir nie viel erzählt. Aber sie hat es aufgeschrieben.

Tagebücher, Briefe, Kalender. Sie hat Akten aufbewahrt und Stasi-Unterlagen. Jeder Streit ist notiert und jedes liebe Wort, jeder fröhliche Tag und die vielen dunklen. Verewigt auf unzähligen Seiten vergilbten Papiers. Der Tag, an dem sie den Verstand verlor, war deshalb der Tag, an dem ich begann, meine Großmutter richtig kennenzulernen.

Es ist der 7. Juli 2006. Das Handy meines Vaters klingelt, er ist gerade in der Werkstatt. Ein Anruf der Polizei Lübeck. Man habe Frau Gennies hilf- und orientierungslos aufgegriffen. Ob das seine Mutter sei? Er fürchtet, ja.

Waltraud war auf dem Weg zur Wäscherei, nicht weit weg von ihrer Wohnung in der Wattstraße. Sie hatte einige volle Tüten dabei. Heiß war es an diesem Tag, auf halber Strecke hatte sie keine Kraft mehr. Sie setzte sich in den Schatten eines Baumes und wartete. Als die Polizisten fragten, ob es ihr gut gehe und wo sie wohne, konnte sie nicht antworten. Mein Vater und ich fahren schon am nächsten Morgen nach Lübeck.

Ich wusste, dass meine Großmutter am 9. Oktober 1934 im Memelland, im heutigen Litauen, geboren worden und irgendwann nach Lübeck gekommen war. Außerdem, dass sie fließend Russisch sprach. Viel mehr wusste ich nicht. Für mich war Waltraud einfach nur die Oma gewesen, die mit mir ins Marionettentheater ging. Die mir Pullover schenkte, teuer, aber hoffnungslos altmodisch. Sie war die Großmutter, die bei jedem Besuch sagte, eines Tages würde sie mit mir nach Paris fahren, den Eiffelturm ansehen. „Wenn Trude mal nicht mehr ist“ - Trude, so hieß ihre Mutter, die sie damals pflegte. Aber Waltraud war auch die Oma, die streng wurde, wenn ich meine Arme auf die Lehne des Sofas legte, weil sie Angst hatte, ich könnte das Holz zerkratzen. Eine ernsthafte Frau, die fast alle ihre Freundinnen siezte.

An Waltrauds (links) 70. Geburtstag scheint noch alles in Ordnung. Sie feiert mit Freunden in ihrer Lübecker Wohnung.
An Waltrauds (links) 70. Geburtstag scheint noch alles in Ordnung. Sie feiert mit Freunden in ihrer Lübecker Wohnung.

© privat

Als sie uns im Sommer 2006 die Tür öffnet, ist klar, dass es diese Großmutter nicht mehr gibt. Schon im Flur stehen Tüten. Gefüllt mit sauberer Wäsche, Schmutzwäsche und: noch mehr Tüten. In der Spüle stapeln sich leere Joghurtbecher. Auf dem Küchentisch steht eine Klopapierrolle, ein Topf auf dem Fußboden.

Der häufigste Grund für Demenz ist die Alzheimer-Krankheit. 1,5 Millionen Menschen in Deutschland sind davon betroffen. Der Verlauf wird in sieben Stufen unterteilt. Als die Polizei uns informiert, hat Waltraud Stufe 5 erreicht: mittelschwer gemindertes Wahrnehmungsvermögen. Sie ist nicht mehr in der Lage, sich an die eigene Adresse oder Telefonnummer zu erinnern. Sie weiß nicht, welcher Tag ist. Aber sie kennt noch Details über sich und ihre Familie, kann selbstständig essen und zur Toilette gehen.

Ich erkenne sie kaum wieder. Sie wirkt verunsichert, die sonst stets gekämmten Haare stehen in Strähnen ab. Meist kommen wir nur einmal pro Jahr zu Besuch. Wie war sie so geworden? Und wann? Überall im Haus hat sie Notizen verteilt. Um ja nichts zu vergessen, hat sie zehn kleine Kalenderbücher angelegt und alles eingetragen, vom Wetter über Telefonate bis zu Sendungen, die sie im Fernsehen geschaut hatte. Wir beginnen zu lesen, erhoffen uns Informationen über den Verlauf und die Art ihrer Krankheit. Doch je tiefer wir in ihrem persönlichen Archiv wühlen, Briefe und Tagebücher durchblättern, desto klarer wird, dass es nicht nur die Oma meiner Erinnerung nicht mehr gibt: Ich hatte nie eine Ahnung gehabt, wer sie wirklich war.

Waltraud ist verängstigt, erst nach langen Gesprächen können wir sie überreden, mit uns zu kommen. Meine Mutter organisiert ihr im unterfränkischen Bad Neustadt einen Heimplatz. Die Notizen meiner Oma lassen wir zunächst in Lübeck. Als Waltraud mit uns ihre Wohnung verlässt, sagt sie: „Das wars dann.“

Wir lösten später ihren Haushalt auf und fanden immer mehr Briefe, Erinnerungen. Zu viele für einen Tag. In den Jahren danach lasen wir hin und wieder fasziniert und beschämt in Waltrauds Notizen, die im Kleiderschrank meines Vaters lagerten. Erst nach zehn Jahren habe ich mich getraut, sie komplett durchzugehen. Die Unterlagen erzählen, worüber Waltraud nie hatte sprechen wollen.

Der Himmel war rot gefärbt, als wir nach Hause fuhren, lagen überall Leichen

Waltraud über die Schlacht um Memel 1945

Ostpreußen, Zweiter Weltkrieg: „Wir hatten eine Landwirtschaft mit Pferden, Kühen, Schafen und einem bösen Hund“, schrieb sie mit blauer Tinte in ihrer klaren, geschwungenen Schrift. „Obwohl mein Vater wenig zu Hause war, brachte er mir das Walzertanzen bei. Ich vermisste ihn sehr, als er 1940 Soldat werden musste.“ Die Familie versuchte 44 dem Krieg zu entkommen, doch „zu spät. Am 9. Oktober, meinem zehnten Geburtstag, hat die sowjetische Armee uns den Weg abgeschnitten. Ich wurde vor Vergewaltigung verschont, als ich anfing zu weinen.“ Am 28. Januar 1945 erlebte sie die Schlacht um Memel. „Der Himmel war rot gefärbt. Als wir nach Hause fuhren, lagen unzählige Leichen auf den Straßen.“

Und nun sitzt sie also 60 Jahre später neben mir auf der Rückbank des roten Fiat Punto meines Vaters, in schwarzem Pullover mit weißem Kragen, ohne uns je etwas von alldem berichtet zu haben. Sie zeigt durch die Scheiben auf den Himmel: „Sidney, wollen wir das Wolken-Spiel spielen? Wenn man genau hinsieht, kann man Figuren erkennen.“ - „Ich sehe einen Hasen“, sage ich. Meine Oma kichert. „So ein Quatsch.“

In Tagebüchern erinnert sich Waltraud an ihr Leben. Zum Beispiel an Vater Wilhelm, der nie viel Zeit hatte. Dass er sie trotzdem lehrte, Walzer zu tanzen, war eine von Waltrauds schönsten Erinnerungen.
In Tagebüchern erinnert sich Waltraud an ihr Leben. Zum Beispiel an Vater Wilhelm, der nie viel Zeit hatte. Dass er sie trotzdem lehrte, Walzer zu tanzen, war eine von Waltrauds schönsten Erinnerungen.

© privat

Erst 1958 durfte sie mit ihrer Mutter aus Litauen ausreisen. Nach Lübeck, wo der Vater nach seiner Kriegsgefangenschaft untergekommen war.

Ein Junge, den sie als Mädchen in Ostpreußen kennengelernt hatte und den Krieg und Schicksal nach Halle verschlagen hatten, war der erste, der eine Postkarte erhielt: „Und wie wird es mit einem Wiedersehen?“ Der Name des Jungen war Helmuth Gennies. Mein Großvater, den ich nie getroffen habe und mit dem mein Vater nur selten gesprochen hatte.

Sie hätten sich eben nicht viel zu sagen gehabt.

Waltraud hat Helmuth hunderte Briefe geschrieben. Da er in die DDR und sie in die BRD gekommen war, konnten sie sich nur selten treffen. Dann ging Helmuth zum Theologiestudium nach Berlin. Meine Großmutter bekam eine Stelle als Schwester im Krankenhaus Moabit, zog in die Turmstraße.

„In der Nacht vom 12. zum 13. August hatte ich Nachtwache. Helmuth musste zum Ernteeinsatz irgendwohin. Wir erfuhren erst am Morgen, was geschehen war.“ Mauerbau 1961. „Ich glaube, ich bin noch am selben Tag rüber gefahren“, schrieb Waltraud. Mit ihrem westdeutschen Pass durfte sie die Grenze passieren.

"Brummbär" nannte Waltraud ihren Mann Helmuth, während sie selbst sich in Briefen als die "Brummbärenbraut" bezeichnete.
"Brummbär" nannte Waltraud ihren Mann Helmuth, während sie selbst sich in Briefen als die "Brummbärenbraut" bezeichnete.

© privat

Aus den Jahren nach dem Mauerbau stammen ihre persönlichsten Aufzeichnungen. „Ein Blumenbuch“, nennt sie es. Ein Büchlein mit Fotos von Maiglöckchen und Flieder. „Mein Liebster! Ich schreibe dieses kleine Tagebuch für Dich, ganz allein für Dich. Ich wähle die Tage des Wonne-Monats Mai und seine Nächte ...“ 31 Einträge, für jeden Tag einen.

Mit einem Koffer stieg sie am 17. April 1964 in den Zug. Der DDR-Zoll brachte sie mit einem Kleinbus in ein abgesperrtes Lager. „Dort gab es überwiegend Männer, die morgens fragten: ,Biste auch von deinen Ollen weggeloofen?“ Für Helmuth war sie freiwillig in die DDR gegangen.

Die Fahrt von Lübeck nach Bayern dauert fünf Stunden. Die meiste Zeit schweigt meine Oma. Wir haben für sie einen Platz im besten Altenheim des Ortes, aber was heißt das schon? Hedwig-Fichtel-Straße, ich helfe ihr aus dem Wagen. Rauf zum Eingang, es riecht nach Desinfektionsmittel. Linksrum zur Station 1, die Geschlossene. Wir klingeln, und eine Pflegerin öffnet die Tür. Im Gang stehen Bewohner. Eine Frau schreit, eine andere kaut auf einem Handtuch. Waltraud bekommt ein Doppelzimmer. Ein Pfleger notiert später: „Bewohnerin kam zum Singen dazu. Nach kurzer Zeit fühlt sie sich zu traurig, um weiter mitsingen zu können.“

Waltraud verweigert das Essen, wiegt laut Akte nur noch 34,4 Kilogramm, Risiko der Selbstgefährdung: „sehr wahrscheinlich“.

Es hat glückliche Zeiten im Leben meiner Großmutter gegeben. Helmuth, den sie in Briefen ihren „Brummbär“ nannte, während sie selbst sich als die „Brummbären-Braut“ bezeichnete, hatte eine Stelle als evangelischer Pfarrer in Hordorf in Sachsen-Anhalt bekommen. 20 Jahre lang lebten sie zusammen in dem großen roten Pfarrhaus im Kirchenwinkel 7. Hielt Helmuth einen Gottesdienst, saß meine Großmutter meist in der ersten Reihe. Predigte er länger als 20 Minuten, begann Waltraud sich hörbar zu räuspern. Er konnte recht ausschweifend sein, mein Großvater.

Waltraud notierte sich in diesen Jahren fast alles im Kalender. Etwa 1964:

14.5. Eheschließung

16.5. Trauung

Im Jahr 1966 trägt sie am 8. Oktober ein: „17.45 MARTIN 3900g, 58 cm, 39 cm Kopfumfang.“

Außerdem war mein Opa offenbar im Februar 1970 erkältet, mein Vater wollte im März 1974 nicht in die Schule und verlor tags darauf eine Zahnplombe.

Sohn Martin blieb Einzelkind. Zwei Schwestern waren jeweils kurz nach der Geburt verstorben. In der Familie war dies jedoch nie Thema.
Sohn Martin blieb Einzelkind. Zwei Schwestern waren jeweils kurz nach der Geburt verstorben. In der Familie war dies jedoch nie Thema.

© privat

Doch mit keinem Wort erwähnt Waltraud die zwei Mädchen, die jeweils kurz nach der Geburt starben. Sie muss die Einträge über ihre Schwangerschaft nachträglich entfernt haben. Es war nie ein Thema in unserer Familie, die Gräber wurden rasch aufgegeben. Die Erinnerung an die Kinder ist mit Waltrauds Demenz nun endgültig ausgelöscht. Lediglich in der Stasi-Akte meiner Großmutter findet sich der Vermerk: „Die G. hatte drei Kinder, wovon zwei verstorben sind.“

Als Pfarrersfrau stand sie in der DDR unter besonderer Beobachtung. Sie beteilige sich am gesellschaftlichen Leben „überhaupt nicht“, und „ihre Einstellung zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat ist nicht die Beste“. Geschrieben hat das ein Unterleutnant der Volkspolizei, der auch bemerkte: „Sie macht einen guten Eindruck und ist stets und ständig sauber gekleidet.“

Eines Nachmittags, sie ist gerade vier Monate im Heim, steht Waltraud still betend in ihrem Zimmer. Eine Pflegerin notiert: „Ich schlug ihr vor, dass wir gemeinsam laut das ,Vaterunser sprechen. Frau G. sagte: ,das war heute mein schönstes Geschenk und umarmte mich glücklich.“

Als ich an ihr Bett trete, nennt Waltraud mich Martin. Sie kann meinen Vater und mich nicht auseinanderhalten. Das ist Stufe 6. Wenn man vertraute Gesichter erkennen kann, sich aber nicht mehr an die Namen erinnert. „Helmuth?“, fragt sie meinen Vater.

Helmuth starb 1986. Er war gerade auf Kur.
Helmuth starb 1986. Er war gerade auf Kur.

© privat

Helmuth sah sie zum letzten Mal 1986. Ende des Jahres war er zur Kur in Bad Brambach. Telefonisch wurde Waltraud über seinen Tod informiert. Es war wohl das Herz. Bei einem Spaziergang im Wald war er zusammengebrochen und schleppte sich mithilfe einiger Männer noch bis zum Tor der Kuranlage. „Der Arzt wurde 2x gerufen, kam nach 10 min. Zwischendurch war Helmuth still geworden“, notierte Waltraud einen Monat nach dem Vorfall auf einer Karteikarte.

Gegenüber ihrem Bett im Heim steht ein Foto von Helmuth in der Schrankwand. Sie interessiert sich kaum dafür, isst aber wieder. Für längere Strecken braucht sie nun einen Rollstuhl. Ich schiebe sie die kleine Straße hinauf zur Stadtmauer, die ein paar Minuten von ihrem Heim entfernt liegt. Es ist Winter, auf dem Marktplatz gibt es Glühwein. Zittrig hält sie ihre Tasse, nimmt große Schlucke. „Das ziehst du aber ganz schön weg“, sage ich. Da muss sie grinsen. Alkohol hat sie früher nur sehr selten getrunken.

Stille ist unerträglich. Mein Vater liest ihr deshalb Kurzgeschichten vor, zuletzt die masurischen Geschichten von Siegfried Lenz.
Stille ist unerträglich. Mein Vater liest ihr deshalb Kurzgeschichten vor, zuletzt die masurischen Geschichten von Siegfried Lenz.

© privat

Weihnachten holen wir sie ab, dann sitzt sie auf ihrer alten Couch, die nun bei meinem Vater steht, die Armlehnen ziemlich zerkratzt.

Nach fast einem Jahr im Heim heißt es in ihrer Akte: „Sie redet nur von Stuhlgang und vom ,Untergang, geordnetes Gespräch nicht möglich.“ Besuchen wir sie, wird die Stille unerträglich. Mein Vater liest ihr nun immer sonntags eine Kurzgeschichte vor, zuletzt die masurischen Geschichten von Siegfried Lenz.

Mich hat Waltraud das erste Mal in einem langen Brief an ihre Mutter im März 1988 erwähnt. Waltraud, die ihre Jugend in Krieg und Flucht verbracht hatte, war fassungslos über die Torheit ihres damals 21-jährigen Sohnes: „So werden wir beide wohl oder übel in die Rollen von Groß- und Urgroßmutter wachsen müssen. Das kann ich mir allerdings besser vorstellen als die beiden ,Kinder als Vater und Mutter. Sie hätten ihre jungen Jahre noch genießen können.“ Ein Jahr nach meiner Geburt schrieb sie: „Am Montag brachten sie mir Sidney für die Nacht. Er war auch rundum zufrieden, nur in der Krippe wollte er mich nicht mehr loslassen. Nur gut, dass ich das nicht jeden Morgen durchstehen muss.“

Nach der Wende zog Waltraud zurück nach Lübeck, um meine Uroma Trude zu pflegen. „Ihre Vergesslichkeit ist ein großes Problem bei der Betreuung. Reden gegen den Wind!“

Der Tod gab ihr die menschliche Würde zurück

Waltraud über ihre demente Mutter

Ihre dunkelsten Stunden machte Waltraud mit sich selbst aus. Waren wir zu Besuch, servierte sie Tee und Kassler wie immer. Dass meine Uroma zwar Zucker in ihr Getränk streute, aber vergaß umzurühren, ließ uns schmunzeln, Waltraud, wenn sie allein war, verzweifelte daran.

„23. März: Die Zeit rast im täglichen Kleinkrieg, ihre Schnüffelei ist kaum zu ertragen.“

„24. März: Waschtag. Eine Katastrophe! Ich nehme ihren Toiletteneimer, um ihn mit heißer Lauge zu spülen. Sie holt ihn immer wieder weg, wie besessen.“

„25. März: Morgens eine Pfütze auf dem Flur, ausgerechnet da, wo meine Stiefel standen. Den einen hat's erwischt.“

Und immer wieder notierte sie: „Es ist unerträglich.“

Von Sohn und Enkel bekam sie Karten aus Ägypten, Indonesien und von Usedom.

Wie im Film spult sich im Traum mein Leben ab. Für wen? Einen Richter oder gnädigen Gott?

Eine der letzten Aufzeichnungen von Waltraud

Um nahe bei Trude sein zu können, übernachtete sie immer häufiger nicht in der eigenen Lübecker Wohnung, sondern auf einem Bett in der Küche ihrer Mutter.

7. Oktober 1996: „Immer will sie ,nach Hause gehen. Wenn ich frage, wohin, sagt sie ,Memelland. Beruhigung kann nur durch Hinlegen erreicht werden, wogegen sie sich wehrt, manchmal mit Schlagen, Treten, Kratzen.“

Die Eintragungen enden mit dem Tod ihrer Mutter. Waltraud saß neben dem Bett, als sie starb. Sie sprach ein Vaterunser und zog Trude das Nachthemd an, das sie sich für diesen Fall schon vor Jahren ausgesucht hatte. Waltraud notierte: „Der Tod gab ihr die menschliche Würde zurück. Gegen 11.30 Uhr wurde sie abgeholt.“

Die „Alzheimers Association“ warnt, die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, sei besonders hoch, falls Verwandte ersten Grades betroffen waren.

Waltraud nahm den Kampf auf. Volkshochschule, Kursnummer 106-003: „Verflixt, das darf ich nicht vergessen!“, 69,20 D-Mark. Dann für Fortgeschrittene: „Top im Kopf - Gedächtnis und Konzentrationstraining“, 73,40 D-Mark.

Sie hatte jetzt Zeit, Trude war nicht mehr. Sidney, wann fahren wir nach Paris?

Ich schrieb ihr Postkarten aus Kenia, den USA und Frankreich.

Nachmittags ging sie zum Seniorentanz, montags war Englischkurs. Am 31. März 2005 schrieb sie: „Brief von Sidney erhalten. Habe mich sehr gefreut.“

Es hat ihr Gedächtnis nicht retten können, doch sie schrieb auch dann weiter, als sie schon im Altersheim war, ihre Schrift war jetzt kaum noch zu entziffern.

8. Juli 2006: „Teures Altenheim. Die Rente ist bald aufgebraucht.“

29. Juli: „Wie im Film spult sich im Traum mein Leben ab. Für wen? Für mich, einen Richter oder gnädigen Gott?“

8. August: „Ich friere wie ein Eskimo.“

15. August: „Ich glaube, jetzt ist schon August.“ Dann nichts mehr.

Ich besuche sie im Februar 2016. Sie ist verlegt worden, weg von der geschlossenen Abteilung. Davonrennen kann sie ja nicht mehr. Jemand hat von außen ein Bild vom Eiffelturm an ihre Tür geklebt. Drinnen riecht es nach Urin. Waltraud starrt an die Wand. Stufe 7: Am Ende der Krankheit kann eine Person sich nicht mehr mitteilen, keine Bewegungen kontrollieren. Die Fähigkeit zum Lächeln geht verloren.

„Machs gut“, sage ich zum Abschied. Paris haben wir nie besucht.

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