zum Hauptinhalt
Feld- und Wiesenrowdy. Landwirte ärgern sich über den zugewanderten Nandu.

© Fotos (2): Fotolia, Gestaltung: Anke Dessin

Nandus in Deutschland: Fremde Federn

Vor 15 Jahren entkamen einem Bauern sieben Nandus. Seitdem fressen die südamerikanischen Vögel Felder leer – und vermehren sich wie wild. Mecklenburger klagen: Die gehören hier nicht hin!

Der Busfahrer schaut aus seinen meergrünen Augen wie eine Sphinx mit Vollbart, und er erklärt: „Sie können hier nicht einsteigen!“ Es ist ein Tonfall, dem man unwillkürlich Folge leistet. So ruhig, so definitiv.

Kein Mensch ist im Bus.

Kein Mensch ist auf dem Schönberger Bahnhofsvorplatz.

Wahrscheinlich wird heute auch keiner mehr vorbeikommen. Dies ist tiefstes Nordwestmecklenburg, die Stille vollkommen. Ein Anflug des horror vacui ergreift den abgewiesenen Fahrgast, der macht ihn beredt, auf eine leicht panische Weise. Der Herr des ruhenden nordwestmecklenburgischen Nahverkehrs folgt mit beinahe zoologischem Interesse den nun auf ihn einstürzenden Argumentationsketten, studiert sogar einen ihm vors Gesicht gehaltenen Einzelverbindungsnachweis, um dann den Triumph der Beförderungswilligen mit Gleichmut entgegenzunehmen:

„Bus 351, fährt um 13.25 Uhr! Hier steht es. Und Sie sind der Bus 351!“

„Ja, wenn Sie das so sagen“, antwortet er, „dann fahren wir doch mal los! Macht 3,60 Euro!“

Eine merkwürdige Willkommenskultur. War das nun schon fremdenfeindlich oder mehr norddeutscher Humor? Städter haben keine Nerven, das unterscheidet sie von den Nandus.

Vor ein paar Jahren kannte hier noch kein Mensch diesen Namen. Das ist jetzt anders. Der Nandu ist der schrägste Vogel von ganz Nordwestmecklenburg, ein Riesenvogel mit Migrationshintergrund, und der wohnt jetzt hier.

Sehen wir auch Nandus?“, möchte ich den Busfahrer fragen, aber es ist wohl besser, ihn nicht zu reizen. Die Beziehungen des Nandus zum gemeinen Nordwestmecklenburger sind nicht die besten.

Schattige Baumalleen, sanfthügelige Felder bis zum Horizont. Weizen, Roggen und Wintergerste. Hier irgendwo müssen sie sein, die erfolgreichsten Neumecklenburger. Da sie so groß werden, ragen ihre langen dünnen Hälse bestimmt weit sichtbar aus den Getreidefeldern. Dazu dieser unvergleichliche Blick auf den Fotos.

Die gucken so kompetent. Als wollten sie jeden fragen: Was bist denn du für ein komischer Vogel? Doch noch ist kein Nandu zu sehen.

Das sei auch sehr gut so, kommentiert düster der Busfahrer.

Auch der Minister ist ein schräger Vogel

Im Frühjahr hat der Landwirtschaftsminister von Mecklenburg-Vorpommern seine Mitmecklenburger zu einer neuen Willkommenskultur für den Nandu aufgerufen. Je öfter man den Landwirtschaftsminister reden hört, desto mehr ahnt man: Auch Till Backhaus ist ein ziemlich schräger Vogel. Es komme darauf an, die Immigranten als Chance zu begreifen, hat er gesagt, sinngemäß.

Alle möglichen Parteien haben sich daraufhin von Backhaus distanziert. Es gehe nicht an, diese Migranten mit anderen gleichzusetzen, haben sie gesagt, und Backhaus solle kompetente Lösungen finden oder aber zurücktreten und ehrenamtlich bei der Aufnahme von Flüchtlingen helfen. Das war der Vorschlag der FDP. Nur die NPD sagte gar nichts.

Einmal hat es der Nandu schon auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages geschafft. Wahrscheinlich glaubte die FDP-Abgeordnete Christel Happach-Kasan, dass man ein so großes Problem wie jenes der Nandu-Zuwanderung nicht allein einem Landwirtschaftsminister überlassen könne, und dann noch dem Mecklenburg-Vorpommerns. Doch die Positionierung des Deutschen Bundestags war enttäuschend. Es sei „nicht hinreichend belegt, dass der Nandu die Tier- oder Pflanzenwelt der europäischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt“, ließ das Parlament verlauten. Wahrscheinlich halten die Nordwestmecklenburger diese Auskunft für symptomatisch: wieso Mitgliedstaaten? Den Nandu gibt es doch nur bei ihnen.

Und was heißt, er beeinträchtige nicht die heimische Tierwelt? Möglicherweise, so lautet der schlimmste Verdacht, frisst er sogar die Blauflügelige Ödlandschrecke. Eine der zwei äußerst seltenen, vom Aussterben bedrohten Heuschreckenarten, für die beim Bau der Ostseeautobahn extra eine Ödlandschreckenüberführung errichtet wurde. 25 Millionen Euro hat die gekostet! Dafür ist sie aber auch sehr breit, damit die Heuschrecke ihren Fußgängerüberweg findet. Warum wohl kommen die Nandus da hin? Nur um auf die A 20 zu gucken?

Gewiss hat die Freie Nandu-Republik Mecklenburgs die Freundschafts- und Beistandserklärung des Landwirtschaftsministers sehr begrüßt, aber war sie auch nötig?

Gourmets im Rapsfeld

Feld- und Wiesenrowdy. Landwirte ärgern sich über den zugewanderten Nandu.
Feld- und Wiesenrowdy. Landwirte ärgern sich über den zugewanderten Nandu.

© Fotos (2): Fotolia, Gestaltung: Anke Dessin

Die Willkommenskultur östlich des Ratzeburger Sees, das sieht man sofort, ist auch jetzt schon ziemlich gut. Felder, wohin das Auge reicht, Felder in allen Geschmacksrichtungen. Das ist doch mal was anderes als die Pampa, dieses öde Grasland, um das sich die Nandus zu Hause in Südamerika auch noch mit dummen Kühen streiten müssen. Wahrscheinlich haben sie so lange Beine, weil es in der Pampa ziemlich weit ist von Halm zu Halm, und sie können so schnell laufen, damit sie nicht verhungern, ehe sie beim nächsten ankommen. Dass es sich andererseits nicht lohnt, von Halm zu Halm zu fliegen, erklärt jedem Hobbydarwinisten, dass ihre Flügel verkümmert sind. Selbstredend sind sie damit ihrer neuen Umgebung nicht optimal angepasst. Das ist auch dem Kreisbauernverband schon aufgefallen.

Rowdytum am Halm?

Die zerstören unsere Rapsfelder!, lautet einer seiner Hauptvorwürfe. Der Kreisbauernverband hofft, dass Rowdytum am Halm irgendwann geahndet wird. Außerdem fressen sie vom Raps nur die Blüten. Aber jede Überflussgesellschaft bringt Gourmets hervor, da kann man nichts machen. Leider trägt der Raps, wenn die Blüten weg sind, keine Früchte mehr.

Nur wo sind die Rapsblütenfresser jetzt eigentlich? Statt des grauen südamerikanischen Riesenvogels finden sich überall auf und zwischen den Dörfern Hinweise auf die Höhepunkte des kulturellen Lebens Nordwestmecklenburgs. Das „40. große Teichfest“ soll mit großem Festumzug, Schubkarrenrennen und Helene Fischer begangen werden. Hinter Helene Fischer steht in Klammern: Double.

Jeder, der Nandus treffen will, sollte spätestens in Schlagsdorf aussteigen. Das liegt genau zwischen Schlagbrügge und Schlagresdorf und ist gewissermaßen die Hauptstadt der Freien Nandu-Republik. Nach Art aller Invasoren haben sich auch diese noch nicht auf die endgültigen Grenzen ihres Reichs festgelegt. Sie expandieren, und zwar nach Osten.

Auf der einsamen Straße von Schlagsdorf nach Schlagresdorf fährt kein Auto, da sind nur Himmel, Weizen, Sommer und Lerchen sowie ein einziger Schlagsdorfer, der dem Gräser-Wildwuchs an den Straßenrändern zeigt, was ein Rasenmäher ist. Natürlich hat er schon Nandus gesehen.

Und war ein wenig erschrocken, dass die so groß werden, das wusste er nicht. Und, dürfen sie bleiben?

Der Rasenmähermann schaltet den Rasenmäher aus, fasst die Fragestellerin sehr grundsätzlich ins Auge und sagt dann langsam: „Die gehören hier nicht her!“

Noch immer kein Nandu

Aber wer gehört schon an den Ort, an dem er ist? Welcher Berliner gehört schon nach Berlin? Andererseits: Jeder Schlagsdorfer gehört gewiss nach Schlagsdorf, denn ein anderes Motiv für seine Anwesenheit dort ist gewiss schwer zu finden. Es sei denn, man zählt die Schönheit des Landes zu den stärksten Motiven überhaupt, irgendwo zu bleiben.

Und noch immer: kein Nandu. Seltsam ist das schon. Denn alle sagen, dass der Neunordwestmecklenburger absolut keine Angst hat, wenn er einem Altnordwestmecklenburger begegnet. Muss er auch nicht, denn er ist sehr wehrhaft. Er kann fast jedem auf den Kopf spucken, er kann treten, seinen Hals als Schlagstock benutzen oder einen Feind mit dem Flügel niederwerfen. Er soll sogar schon mit Autos um die Wette gelaufen sein. Beschleunigung von 0 auf 60 km/h: kein Problem. Zwischendurch frisst er Rapsblüten und vielleicht die Blauflügelige Ödlandschrecke. Kein Zweifel, der Nandu ist ein großer Spaßvogel. Der Deutsche Bundestag hatte gefordert, ihn in jedem Fall gut im Auge zu behalten, und das macht Frank Philipp. Der Ornithologe ist offizieller Nandu-Beauftragter der Schweriner Landesregierung. In jedem Frühjahr und Herbst zählt er sie, aber jetzt ist Sommer, und da geht er nicht mal ans Telefon.

Freiheitlich gesinnte Südamerikaner

Feld- und Wiesenrowdy. Landwirte ärgern sich über den zugewanderten Nandu.
Feld- und Wiesenrowdy. Landwirte ärgern sich über den zugewanderten Nandu.

© Fotos (2): Fotolia, Gestaltung: Anke Dessin

Vor 15 Jahren sind sieben Nandus, drei Hähne und vier Hennen, aus einem Gehege in Groß Grönau, Schleswig-Holstein, ausgebrochen. Vielleicht hat der Besitzer einfach vergessen, die Tür zuzumachen. Er verkaufte zum Spaß Nandu-Eier. Ein Nandu-Ei kostet ungefähr sechs Euro und wiegt ein Kilogramm. Wie viele Tage isst man eigentlich an einem solchen Frühstücksei? Man könne es, sagen die Nandu-Ei-Verkäufer auf ebay, auch bloß ausblasen.

Dumm gelaufen, dachte wohl der Hobbyzüchter, als er die Leere hinter seinem Zaun entdeckte. Der Herbst, überlegte er, ist ein ungünstiger Fluchtzeitpunkt, die sieben würden nicht über den Winter kommen. Hier irrte der Landwirt.

Vergangenen Herbst waren es 144 Nandus, in diesem Frühjahr ein paar weniger. Wahrscheinlich haben einige Jungtiere den Winter nicht überlebt, oder Philipp hat falsch gezählt. Aber von Jahr zu Jahr werden es mehr. 144 aus 7!

Die freiheitlich gesinnten Südamerikaner wandten sich entschlossen gen Osten. Irritierend war das schon, es widersprach einer alten, noch sehr vertrauten Migrationsgewohnheit. In der DDR lag Schlagsdorf im Grenz-Sperrgebiet, da kam keiner rein, und seine Bewohner kamen nicht ohne Weiteres raus. Das Museum „Grenzhus“ erinnert an die Zeit. Man könnte eine gewisse Sympathie erwarten für alle, die Herkunftskäfige verlassen und furchtlos über Grenzen gehen.

Er ist ein Herdentier

Was die Bauern verstimmt, ist nicht zuletzt, dass sie die Rapsblütenfresser nicht einmal stören dürfen beim Rapsblütenfressen, denn der Nandu gehört zu den vom Aussterben bedrohten Arten. Außerdem kommt nie einer allein, sondern bringt fast immer bis zu 59 andere mit. Der Nandu ist ein Herdentier.

Dass er in seiner Heimat vom Aussterben bedroht ist, liegt an der Willkommenskultur der Pampa. Die Besitzer der südamerikanischen Rinderherden schießen die Vögel, damit sie ihren Kühen nicht das Gras wegfressen, und schätzen sie eigentlich nur in Form von Steaks.

Wenn Wildschweine in Felder einfallen, kann der Mecklenburger Landwirt Schadenersatz bekommen, bei Nandu-Schäden kriegt er nichts. Müsste der Nandu nicht in die Wildschadensklasse aufgenommen werden?

In Afrika gibt es den Strauß, in Australien den Emu und in Südamerika den Nandu. Die Vögel sollen nicht miteinander verwandt sein, sondern sich jeweils selbstständig an das Leben in weiten Grasländern angepasst haben. Harte Winter sind sie alle nicht gewöhnt, doch der Nandu hat die Herausforderung angenommen. Ohne den subventionierten Biosprit hätte er das allerdings nicht geschafft. Wegen dem werden die Rapsfelder immer größer, und Raps geht noch vor dem Winter auf. Die südlichen Vögel stehen dann geduldig und sehr filigran auf den vereisten Feldern und suchen das Grün unter Schnee und Eis. Puristen könnten nun sagen: Der Nandu gehört nicht in den deutschen Winter!

Der Nandu hat bei uns keine natürlichen Feinde, und eigentlich lebt er durch und durch vegan, aber Nandu-Küken, argwöhnen die Experten, brauchen tierisches Eiweiß. Sollte sich herausstellen, dass er doch die Blauflügelige Ödlandschrecke frisst, hat der Nandu ein Problem.

Am einfachsten wäre es, ihm ein paar Eier wegzunehmen. Bis zu 30 Stück liegen in einem Nest. Wenn da also, sagen wir, 20 fehlten, wären es dann nicht noch immer genug? Es hat sich noch kein Freiwilliger gefunden. Der Nandu-Hahn persönlich brütet die Eier aus, alle auf einmal. Er gilt als unbestechlicher Mathematiker, die Betonung liegt auf „alle“. Vor sonstigen Räubern muss der Nandu sich nicht fürchten, denn die Schalen seiner Eier sind steinhart, die knackt so leicht keiner. Auch kein Wolf?

Er bleibt unsichtbar

Man könnte ein Wolfsrudel einbürgern, aber wer sagt, dass die nicht Angst bekommen? Einen solchen Vogel haben sie noch nicht gesehen! Und dann hätten die Nordwestmecklenburger die Wölfe und den Nandu und müssten wahrscheinlich auswandern.

Der Vogel bleibt unsichtbar.

Auf dem Rückweg ist die Haltestelle noch ziemlich weit weg, als der 351er schon ganz nah ist.

„Wollen Sie nicht auch mit?“, ruft der Busfahrer, und es klingt wie eine Aufforderung zum Spurt.

„Was, bin ich zu spät?“

„Keineswegs, aber ich bin zu früh“, antwortet er, hält an, steigt aus und trägt den Koffer seines Fahrgastes zum Bus. Das gibt es nur in Nordwestmecklenburg.

Wir passieren den höchsten Berg weit und breit, bestimmt 20 Meter über dem Meer. Und plötzlich weiß ich, wo sie sind: im Moor! Es ist Brutzeit.

Schon in der Pampa bevorzugten sie Sumpfnähe zum Nesterbau. Und das Unesco-Biosphärenreservat Schaalsee ist aufmerksam genug, jedes Jahr mehr Moor rund um den See zu renaturieren. Alle sind aufgefordert mitzumachen: Für 50 Euro bekommt man schon 170 Quadratmeter Moor! Und das alles, um die Willkommenskultur für einen großen grauen Vogel zu verbessern. Darum sitzen die Nandu-Väter jetzt gut versteckt am See, und jeder brütet auf seinem Bis-zu-30-Eier-Nest.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false