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Jedes Jahr spielen sie in Monroe die Szenen nach, die sich am 25. Juli 1946 an der Moore's-Ford-Brücke ereigneten. Jedes Jahr liegen fünf schwarze, unschuldige Menschen tot in der Lichtung.

© AP Photo/John Bazemore

Rassismus in den USA: Lynchmord als Theaterstück

Jedes Jahr werden sie wieder getötet. Die fünf Schwarzen, die der Ku Klux Klan 1946 in Georgia lynchte. Der Bürgerrechtler Tyrone Brooks hat aus den Morden ein Theaterstück gemacht – als Mahnung. Den Auftrag hat er von Martin Luther King persönlich.

Vier Menschen liegen reglos nebeneinander im Gras, die Körper leicht verrenkt, lose zusammengebunden mit einem Strick, neben einer der Frauen ein Baby. Tränen und Blut sind reichlich geflossen an diesem sengenden Julitag in Walton County, Georgia. Echte Tränen und künstliches Blut, begleitet vom Gesang der Zikaden.

Lisa Searcy kauert am Straßenrand. Ihr Gesicht ist nass, ihr Körper bebt. Ein paar Meter weiter steht Rich Robertson auf der Lichtung. „Es ist schwer, sich in diese Rollen hineinfallen zu lassen“, sagt er. „Aber wenn wir unseren Rollen nicht treu sind, dann sind wir der Geschichte nicht treu.“ Lisa Searcy und Rich Robertson sind Laienschauspieler, haben an diesem Tag den Lynchmord an der Moore’s-Ford-Bridge aus dem Jahr 1946 nachgestellt. Der ging als einer der letzten öffentlichen Lynchmorde in die amerikanische Geschichte ein.

Seit zehn Jahren findet jeweils Ende Juli ein Reenactment, eine Nachstellung des Lynchmordes statt, an den Originalschauplätzen in der Nähe der Kleinstadt Monroe in Walton County. Das Ziel: Die Erinnerung wach zu halten – auch angesichts immer wieder aufflammender Gewalt gegen Schwarze in Amerika. Am 25. Juli 1946 hatte an der abgelegenen Moore’s-Ford-Brücke ein Mob aus Mitgliedern des rassistischen Geheimbundes Ku Klux Klan zwei junge afroamerikanische Paare – George und Mae Murray Dorsey sowie Dorothy und Roger Malcom – auf eine Lichtung gezerrt und mit mehr als 60 Gewehrschüssen niedergestreckt. Dorothy Malcom war schwanger; die Mörder schnitten der toten Frau das Baby aus dem Bauch und warfen die Leiche des Säuglings neben die seiner Mutter.

Ein historisches Lehrstück

69 Jahre später, am Nachmittag des 25. Juli 2015, löst sich die Gruppe der Zuschauer nur langsam auf. Etwa 150 Menschen sind an diesem Tag gekommen, vor allem Afroamerikaner, aber auch Weiße, ein paar Reporter vom Radio und Lokalzeitungen.

Am Rand der Lichtung steht, in feuerrotem Hemd, weiter Latzhose und mit altmodischem Megafon, ein Mann und beobachtet aufmerksam die Menge. Der Mann ist Tyrone Brooks, Gründer der Moore’s-Ford-Bewegung und Cheforganisator des historischen Lehrstücks. Er sagt: „Wenn gestandene Polizisten, die hier ihre Arbeit tun, weinen wie kleine Kinder, dann weiß ich: Wir haben es richtig gemacht.“

Brooks, Jahrgang 1945, Ikone der Bürgerrechtsbewegung, Schüler des Bürgerrechtskämpfers und Baptistenpredigers Martin Luther King, war 35 Jahre lang Mitglied im Abgeordnetenhaus von Georgia, bis er wegen Steuerhinterziehung verurteilt wurde und im April sein Mandat niederlegte. „Ich bin es gewohnt, unter die Lupe genommen und eingeschüchtert zu werden“, sagt er. Seit dem Ende seiner politischen Karriere widmet er sich ganz seiner Arbeit für die Southern Christian Leadership Conference (SCLC), die unter ihrem Gründer und ersten Präsidenten Martin Luther King zur treibenden Kraft des amerikanischen Civil Rights Movement wurde. Die Zentrale der SCLC befindet sich in der Auburn Avenue in Downtown Atlanta, dem Zentrum der Bürgerrechtsbewegung in den 50er und 60er Jahren.

Brooks ist überzeugt, dass die Ermittlungen der Steuerbehörden gegen ihn in Verbindung mit seinem hartnäckigen Engagement für die Aufklärung der Moore’s-Ford-Morde stehen. Die steht nämlich bis heute aus. 54 Verdächtige wurden nach der Tat verhört. Der damalige US-Präsident Harry S. Truman ordnete eine Untersuchung durch das FBI an und setzte eine Belohnung in Höhe von 12.500 Dollar aus.

Brutstätte des Ku Klux Klan

Das FBI startet seither alle paar Jahre eine neue Welle von Ermittlungen, doch bislang liefen alle ins Leere. Anfang des Jahres verhörten FBI-Agenten den 87-jährigen Charlie Peppers aus Monroe, der seit den 80er und 90er Jahren auf der Liste möglicher Augenzeugen steht. Doch Peppers, zum Zeitpunkt des Mordes 18 Jahre alt, leugnet jegliche Beteiligung. „Ich wusste damals nicht mal, wo die Moore’s-Ford-Brücke war.“ Brooks lässt sich von den fruchtlosen Ermittlungen nicht frustrieren. „Die internationalen Strafverfolgungsbehörden spürten bis heute Alt-Nazis in aller Welt auf, sagt er. „Warum ist es dann so schwer, Täter, Augenzeugen oder Mitwisser eines Lynchmordes von 1946 zu finden?“

Ein Lynchmord, über den die gesamte Stadt und des gesamte Landkreis Bescheid wusste, sagt Laura Wexler, Journalistin und Historikerin, die 2003 ein Buch über die Morde an der Moore’s Ford Bridge veröffentlichte. Der Lynchmord sei ein offenes Geheimnis unter den Bürgern gewesen, aber die Mauer des Schweigens halte noch immer.

Die Kleinstadt Monroe galt bis in die 80er Jahre hinein als Brutstätte des Ku Klux Klan. Ein ruhiges Städtchen, 13.000 Einwohner, mit einer schmucken Straßenzeile, Antiquitätenläden, Boutiquen und Cafés. Doch bis heute begrüßt Monroe seine Besucher mit einer Willkommenstafel, auf der die Kriegsflagge der Konföderierten prangt.

Für Tyrone Brooks ist die Erinnerungsarbeit am Moore’s-Ford-Lynchmord ein persönliches Anliegen. Ein Auftrag den ihm sein Mentor Martin Luther King als eine Art Erbe übertragen habe. Brooks lehnt sich zurück, macht eine dramatische Pause und holt dann aus. Er erzählt gerne Geschichten, und er erzählt sie gut.

Als Martin Luther King starb

Am Abend des 4. April 1968 wartete der damals 22-Jährige Brooks auf dem Flughafen von Monroe auf Martin Luther King, der später aus Memphis kommen wollte, um sich am nächsten Morgen des Lynchmords anzunehmen. Dazu kam es nicht mehr. „Um 18:01 Uhr Memphis-Zeit, als die Kugel den Kopf von Martin Luther King traf und sein Gesicht wegsprengte, war ich in Monroe. Das war der Ort, an dem ich sein sollte.“

Die Bestimmung ist eine Sache, der hohe Symbolwert des ungesühnten Lynchmordes ist eine andere, sie steht für den politischen Kampf der Gegenwart. Bürgerrechtler wie Tyrone Brooks sehen ihre Aufgabe noch lange nicht erfüllt. Da sind die vielen Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze, zuletzt in New York und Ferguso, in Baltimore, Denver und Atlanta. Der rassistische Anschlag auf eine afroamerikanische Kirche in Charleston, South Carolina. Was an der Moore’s Ford Bridge geschah, gilt als besonders grausam, selbst für Georgia, wo zwischen 1877 und 1950 mehr Afroamerikaner gelyncht wurden als in jedem anderen US-Bundesstaat. Diese Morde waren besonders grausam, sie wurden in aller Öffentlichkeit ausgeführt und von den Tätern hat bis heute keiner sein Schweigen gebrochen.

Soweit historisch bekannt, hatte der schwarze Landarbeiter Roger Malcom elf Tage vor dem Lynchmord einen weißen Farmer mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Bei dem Streit ging es um Malcoms Frau Dorothy: Malcom vermutete, dass der Farmer ein Verhältnis mit ihr hatte.

Moritatensänger. Tyrone Brooks organisiert das Schauspiel.
Moritatensänger. Tyrone Brooks organisiert das Schauspiel.

© Katja Ridderbusch

„Die eigentlichen Ursachen aber waren andere, und es gab ein ganzes Bündel davon“, sagt die Historikerin Wexler. So kamen schwarze Soldaten wie George Dorsey aus dem Zweiten Weltkrieg nach Hause und waren nicht mehr willens, ihre alten unterwürfigen Rollen einzunehmen. Außerdem durften im Juli 1946 Afroamerikaner in Georgia zum ersten Mal an demokratischen Vorwahlen teilnehmen – und die späteren Opfer des Lynchmordes hatten von diesem Recht Gebrauch gemacht. „Der Mord und das Geheimnis darum schweißten die weißen Bürger der Stadt zusammen und sandten eine grausige Warnung an die schwarze Bevölkerung“, sagt Wexler. Und, besonders zynisch: „Der Lynchmord sorgte für Unterhaltung an einem trägen, langweiligen Sommertag.“

Weniger Unterhaltung, vielmehr Ermahnung und Belehrung: Das soll die Nachstellung des Verbrechens an der Moore’s Ford Bridge mit Laienspielern liefern, jedes Jahr am 25. Juli. „Bei unserer ersten Aufführung 2005 hatten wir nur schwarze Schauspieler, weil wir keine Weißen finden konnten, die teilnehmen wollten“, erinnert sich Tyrone Brooks. „Wir haben das dann so gelöst, dass die schwarzen Darsteller der Täter weiße Gesichtsmasken trugen.“

„Das N-Wort geht mir noch immer nicht leicht über die Lippen“

Doch vom zweiten Jahr an waren auch weiße Darsteller dabei. Darsteller wie Rich Robertson. Der ehemalige Pharmavertreter aus Boston arbeitet heute als Lehrer in Atlanta. „Wir müssen uns unserer Geschichte stellen, den guten und den schlechten Kapiteln“, sagt er. In einem Nebengebäude der First African Baptist Church in Monroe haben sich die Schauspieler versammelt, ziehen ihre Kostüme an, proben ihren Text.

Robertson, groß, blond und drahtig, fällt es schwer, sich die Sprache der Rassisten aus dem Jahr 1946 für seine Rolle anzueignen. „Das N-Wort geht mir noch immer nicht leicht über die Lippen“, sagt er und schüttelt den Kopf. N-Wort: Nigger. „Aber das war eben die Sprache der Täter, und die müssen wir wahrheitsgetreu abbilden in unserem Spiel.“

Lisa Searcy sitzt vor einem Pappteller mit Makkaroni in Käsesauce und lacht verlegen. „Ich weiß, dass ich später weinen werde“, sagt sie. „Das ist bei jeder Probe so gewesen. Ich bin sehr emotional.“ Sie spielt Dorothy Malcom, die schwangere Frau, die so grausam massakriert wurde. Wie viele der Laiendarsteller spielt sie für das Publikum, aber auch für sich selbst.

Searcy will bald eine Ausbildung zur Arzthelferin anfangen. Sie stammt aus einer kleinen Stadt ganz in der Nähe des Tatorts, erzählt sie. „Ich hätte Dorothy sein können, wenn ich ein paar Jahrzehnte früher auf die Welt gekommen wäre.“ Sie stochert in ihren Makkaroni. „Wenn mehr Menschen wüssten, was damals hier passiert ist, würde das vielleicht nicht die Welt verändern, aber die Leute hätten vielleicht eine etwas andere Sicht auf Unterdrückung und Gewalt, nicht nur gegen Afroamerikaner.“

Ein Baby schreit

Und deshalb werden die Ereignisse jenes 25. Juli 1964 in kurzen Schlüsselszenen an ihren historischen Orten nachgestellt. Tyrone Brooks ist in diesem Lehrstück der Moritatensänger mit Megafon.

Die Veranstaltung startet in der Baptistenkirche von Monroe. Die Schauspieler tragen Schilder um den Hals mit den Namen ihrer Rollen. Hier in der Kirche stellen sie die erste Szene nach: Der schwarze Landarbeiter Roger Malcom sticht auf den weißen Farmer Barnette Hester ein. Die Zuschauer murmeln, klatschen, rufen „Halleluja“ und „Amen“. Dann setzt sich die Prozession in Bewegung; ein Autokorso, angeführt und gesichert von der örtlichen Polizei, startet an der Kirche und zieht zum alten Gefängnisgebäude. Nächste Szene: Eugene Talmadge, der rassistisch gesinnte Ex-Gouverneur von Georgia, wettert im Juli 1946 gegen das Wahlrecht für Afroamerikaner. Einige Zuschauer buhen. Andere schütteln die Köpfe. Ein Baby schreit.

Auch die dritte Szene spielt vor dem alten Gefängnis. Roger Malcom wird aus der Haft entlassen, wo er wegen des Messerangriffs elf Tage einsaß. Der weiße Farmer Loy Harrison hat eine Kaution für ihn hinterlegt. Malcoms Frau Dorothy und das befreundete Ehepaar George und Mae Dorsey begrüßen Malcom. Alle vier steigen in Loy Harrisons Wagen und fahren ab. Die Menge raunt, ein Mann seufzt laut. Sie alle kennen die Geschichte. Und wissen: Die beiden Paare werden nie zu Hause ankommen.

Hier ist es still, damals wie heute

Weiter bis zur Moore’s-Ford-Bridge, etwa 15 Kilometer von Monroe entfernt. Der Autokorso stoppt etwa zwei Kilometer vor der Brücke, das letzte Stück wird zu Fuß zurückgelegt. Die Brücke liegt mitten in einem verlassenen Waldstück, sie führt über den Apalachee River, der an dieser Stelle eher ein Bächlein ist. Ein Gedenkstein befindet sich an einer großen Kreuzung, etwa drei Kilometer entfernt. Die kleine Straße an der Brücke ist heute asphaltiert; 1946 war sie nur ein staubiger Waldweg. Hier ist es still, damals wie heute.

Der Wagen mit den Malcoms und Dorseys kommt an der Brücke an. Ein Dutzend Männer vom Ku-Klux-Klan stoppen das Auto. Sie sind mit Gewehren und Schlagstöcken bewaffnet, reißen die Türen auf, zerren die Fahrgäste aus dem Auto, schlagen, treten und schreien auf sie ein. Dann binden sie die vier Schwarzen mit einem Seil zusammen und führen sie fort. Die Szene friert ein. Brooks weist die Zuschauer an, sich in der angrenzenden Lichtung zu versammeln.

Ein Beutel mit Kunstblut wird geleert

Letzte Szene: das Massaker. Die Lynchmörder bilden einen Kreis um die Opfer. Die Zuschauer sind jetzt stumm. Eine alte schwarze Frau wimmert leise. Ein Beutel mit Kunstblut wird geleert; die Darsteller der Klansmänner halten die schwarze Babypuppe in die Luft. Die Gewehre sind alle aus Plastik, Spielzeugwaffen ohne Platzpatronen.

Brooks glaubt immer noch daran, dass die Mauer des Schweigens eines Tages bröckeln wird. „Irgendjemand wird irgendwann das Bedürfnis haben, sein Gewissen zu erleichtern, irgendjemand wird sagen wollen, was er weiß, bevor er stirbt.“ Bis es soweit ist, wird er weiter organisieren und marschieren, die Trommeln schlagen und Geschichten erzählen. Weil das nun einmal der Auftrag sei, den ihm Martin Luther King hinterlassen hat. Und er will die Menschen daran erinnern, dass die Arbeit der Bürgerrechtsbewegung lange nicht vorbei ist, „dass sich viel geändert hat und noch viel zu tun ist“.

Katja Ridderbusch

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