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Oben angekommen. Jair Messias Bolsonaro, hier bei einem Wahlkampfaufritt in Curitiba, hat in Brasilien viele Fans.

© Antonio Scorza/dpa

Umstrittener Präsidentschaftskandidat: Jair Bolsonaro – Brasiliens Revolverheld

Er beschimpft Frauen, Schwarze und Schwule, hält Hitler für einen „großen Strategen“. Doch viele Brasilianer sehen in Jair Bolsonaro ihre letzte Hoffnung.

Wenige Tage bevor ihm ein Messer in den Bauch gerammt wird, steht der Präsidentschaftskandidat plötzlich vor Carolina Andrade. Sie ist auf dem Weg zur Arbeit in Rio de Janeiros Stadtteil Botafogo, als er aus einem Auto steigt, um Passanten zu begrüßen.

Sofort sammeln sich die Menschen um ihn, alle wollen ein Selfie mit ihm machen. Andrade sieht, wie er seine Hände zu Pistolen formt, die auf ein imaginäres Ziel feuern. Es ist sein Markenzeichen in diesem Wahlkampf. Die Menge skandiert seinen Spitznamen: „Mito, mito!“ Das bedeutet Mythos.

„Ein Mythos ist er nicht“, sagt Carolina Andrade, die sich während des Tumults am Rande hält. „Aber er ist vielleicht die letzte Hoffnung, die Brasilien hat.“

Kritiker bezeichnen ihn als "klassischen Faschisten"

Der Mann heißt Jair Messias Bolsonaro. Er ist 63 Jahre alt, hochaufgeschossen und schlank, hat stechende blaugraue Augen und ein Lachen, das oft unkontrolliert hervorzubrechen scheint. Seit 27 Jahren sitzt Bolsonaro als Parlamentsabgeordneter in der Landeshauptstadt Brasília, nach einem Parteiwechsel für die rechtskonservative sozial-liberale PSL. Dort hat er vor allem mit Provokationen Aufsehen erregt. Bolsonaro beschimpft regelmäßig Schwarze, Indios, Frauen und Flüchtlinge. Er hält Hitler für einen „großen Strategen“. Einmal sagte er, dass es ihm lieber wäre, einer seiner Söhne stürbe, als dass er schwul sei. Politische Gegner möchte er am liebsten an die Wand stellen und die Gewerkschaften verbieten. Der brasilianische Philosoph Vladimir Safatle bezeichnet Bolsonaro deswegen als „klassischen Faschisten“.

Jair Bolsonaro könnte der nächste Präsident Brasiliens werden. Auch dank Carolina Andrades Stimme. Er führt in allen Umfragen zum ersten Wahlgang am 7. Oktober – Meinungsforscher rechnen aktuell damit, dass er 28 Prozent der Stimmen erhält – und wird es mit Sicherheit in die Stichwahl schaffen. Sollte er aus dieser als Gewinner hervorgehen, wäre das nicht nur eine Zäsur für Brasilien, sondern nach der Wahl Donald Trumps ein weiterer geopolitischer Schock.

Das Militär soll eine Schlüsselrolle übernehmen

Das größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste Land Lateinamerikas würde von einem rechtsextremen Abenteurer ohne Regierungserfahrung geführt. Bolsonaro hat bereits angekündigt, die „kommunistische“ UN verlassen und den riesigen Amazonaswald zur wirtschaftlichen Ausbeutung freigeben zu wollen. Demokratie ist für Bolsonaro: „Schweinerei“. Das Militär soll eine Schlüsselrolle in seiner Regierung übernehmen. Die „New York Times“ schrieb: „Brasilien flirtet mit der Rückkehr in dunkle Zeiten.“ Der britische „Economist“ warnt: „Lateinamerikas neueste Bedrohung“.

Der Historiker Sérgio Buarque beschrieb 1936 den Archetyp des Brasilianers als „herzlichen Menschen“. Nun ist aus dem herzlichen der hässliche Brasilianer geworden.

Wie ist es möglich, dass ausgerechnet dieser Mann Carolina Andrade und Millionen anderer Brasilianer begeistert?

Jair Bolsonaro bündelt die Wut, die Angst und Unzufriedenheit vieler Menschen. Sie sind wütend auf die korrupte politische Klasse. Sie haben Angst vor der ausufernden Kriminalität. Und sie leiden unter der miserablen wirtschaftlichen Lage mit 13 Millionen Arbeitslosen und einer Arbeitslosenquote von zwölf Prozent. Viele Brasilianer haben die Nase voll.

Sie hat genug von Korruption und Kriminalität

Carolina Andrade gehört zu ihnen. Dabei ist die 39-Jährige eine ganz ungewöhnliche Wählerin des rechten Politikers: Andrade ist schwarz, alleinerziehende Mutter und Geringverdienerin. Aber sie hat ein Motiv, das stärker ist als alle Zweifel: „Bolsonaro wird kurzen Prozess mit den Kriminellen und den Korrupten machen“, sagt sie.

Andrade hat einem Treffen in einem Shoppingcenter in Rios Süden zugestimmt. Das ist nicht selbstverständlich, viele Brasilianer wollen sich nicht als Anhänger Bolsonaros outen, von Linken werden sie als Bolsonazis oder Bolsominions (Bolsodeppen) beschimpft. In diesem Wahlkampf zerbrechen Freundschaften, in vielen Familien wird das Thema vermieden. Carolina Andrade hat bislang keine schlechten Erfahrungen gemacht, ihr Freundeskreis ist eher unpolitisch.

Sie spricht mit sanfter Stimme, die nicht passen will zum Zorn in ihren Sätzen. Sie trägt Schuhe mit Absätzen, dezentes Makeup, ihre Haare sind geglättet. Es ist ihr Arbeitsoutfit. Andrade ist Maklerin in einer Immobilienfirma. Aber sie arbeitet auf eigene Rechnung, nur bei einem Vertragsabschluss verdient sie Geld. „Es ist wegen der Wirtschaftskrise immer weniger geworden“, sagt sie. „Ich komme kaum noch über die Runden.“

Dabei hoffte sie kurz, dass es besser werden könne, als Brasiliens aktueller Präsident, der liberal-konservative Michel Temer, 2016 die demokratisch gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von der linken Arbeiterpartei (PT) stürzte. Brasilien befand sich damals in einer tiefen Rezession. Temer versprach, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. „Er hat den Mund zu voll genommen“, sagt Andrade. Die Zustimmungsrate des Präsidenten lag zuletzt unter fünf Prozent.

Lula da Silva darf nicht antreten

Stattdessen ist nun die Arbeiterpartei wieder erstarkt. Ihr Kandidat Fernando Haddad, 55, hat die besten Chancen, gegen Bolsonaro in die Stichwahl zu kommen. Er war Bürgermeister von Südamerikas größter Stadt, São Paulo. Doch Haddad ist nur zweite Wahl: Die Arbeiterpartei wollte ursprünglich Ex-Präsident Lula da Silva ins Rennen schicken, der Brasilien in den wirtschaftlichen Boomjahren zwischen 2003 und 2011 führte. Nur sitzt Lula seit April eine Gefängnisstrafe wegen Vorteilnahme ab – und ein Wahlgericht hat seine Kandidatur verboten. Für die Linke ist Lula deswegen ein „politischer Häftling“, dessen erneute Präsidentschaft verhindert werden soll.

Haddad präsentiert sich nun als Statthalter Lulas. Er trägt stets ein rotes T-Shirt mit Lulas Konterfei und sagt kaum einen Satz, in dem er ihn nicht erwähnt. Das wirkt zuweilen lächerlich, aber die Strategie ist klar: Die einfachen und ungebildeten Menschen im armen Nordosten sollen Haddad mit Lula identifizieren. Dort liegt die Wählerbasis der PT, weil viele Menschen von Lulas Sozialprogrammen profitierten. „Mich überzeugt das nicht“, sagt Carolina Andrade.

Für das Gespräch hat sie zwei Stunden Zeit, dann geht ihr Pendlerbus. Erst vor wenigen Wochen ist sie zu ihrer Mutter an die Peripherie Rios gezogen, weil sie die Miete in Copacabana nicht mehr bezahlen kann. Wenn sie Glück hat, ist sie in eineinhalb Stunden dort. Wenn sie Pech hat, werden drei daraus. „Es ist eine sehr unsichere Gegend“, sagt Andrade. Ihre Tochter im Teenageralter lasse sie nicht mehr alleine zum Bäcker gehen.

594 Kongressmitglieder stehen unter Verdacht

Während sich ihre eigene Lage verschlechterte, erlebte Andrade in den vergangenen Jahren fassungslos, wie fast wöchentlich Politiker in riesige Korruptionsskandale verwickelt wurden. Sie drehten sich meist um den Erdölgiganten Petrobras und den Baukonzern Odebrecht. In Brasília steht nun mehr als die Hälfte der insgesamt 594 Kongressmitglieder im Verdacht, korrupt zu sein. Die Mehrzahl der 25 Parteien im Kongress ist betroffen. Es geht um Milliarden von Dollar.

„Dieses Geld fehlt an allen Ecken und Enden“, sagt Andrade. Etwa in der Schule ihrer Tochter, dort herrscht Papiermangel. Im überfüllten Bus gibt es keine Klimaanlage. Im Fernsehen sieht Andrade Berichte über Schwangere, die im Krankenhausflur gebären, weil kein Bett frei ist. Und dann erlebt sie, wie Anfang September das älteste Museum des Landes, dass Nationalmuseum in Rio de Janeiro, komplett ausbrennt, weil die Hydranten in der Umgebung kein Wasser führten und so keine Löschung möglich war.

Nicht zuletzt fehlt das Geld auch für öffentliche Sicherheit. Das spüren viele Brasilianer hautnah – seit Langem. Carolina Andrades Vater wurde vor 17 Jahren ermordet. Sie erzählt: Ein Nachbar, mit dem er sich in einer Kneipe gestritten hatte, lockte ihn in seine Wohnung und tötete ihn. Obwohl kein Zweifel an der Täterschaft bestand, ist der Nachbar wegen schlampiger Ermittlungen bis heute frei.

"Menschenrechte nur für rechtschaffene Menschen!"

„Es gibt keine Gerechtigkeit in Brasilien“, sagt Andrade. Verbrecher könnten machen, was sie wollen. Wenn einer ins Gefängnis müsse, beklagten Menschenrechtsgruppen, wie schlecht es ihm dort gehe. Sie wiederholt einen Spruch von Jair Bolsonaro: „Menschenrechte nur für rechtschaffene Menschen!“

Man hört das oft dieser Tage in Brasilien. Beinahe 64.000 Menschen wurden im vergangenen Jahr ermordet. So viele wie nirgendwo sonst auf der Welt. Einer der Gründe ist, dass die Mörder nicht bestraft werden: 95 Prozent der Fälle kommen niemals vor Gericht. Denn bei den Opfern handelt es sich meist um schwarze und arme Menschen, deren Leben in Brasilien kaum etwas zählen. Bei anderen Verbrechen ist die Aufklärungsrate noch geringer. Laut Statistik werden in Rio de Janeiro durchschnittlich zwei Handys pro Stunde gewaltsam geraubt. Die Dunkelziffer wird auf ein Vielfaches geschätzt, weil kaum jemand so eine Bagatelle noch anzeigt. Auch Carolina Andrade wurde schon mehrfach überfallen und bestohlen. „Das ist normal“, sagt sie.

Jair Bolsonaro hat versprochen, aufzuräumen. Jeder Brasilianer soll eine Waffe tragen dürfen, um sich zu verteidigen, das ist eines seiner Haupt-Wahlkampfversprechen. Er befürwortet Folter und will der Polizei eine Lizenz für außergerichtliche Exekutionen erteilen. In einem Interview mit Brasiliens größtem Fernsehsender Globo sagte er: „Wenn ein Polizist 20 Kriminelle tötet, gehört er ausgezeichnet.“ Diese Kampfansage überzeugt Andrade.

Aber ihr behagen die Nähe ihres Kandidaten zum Militär und seine verbalen Aggressionen nicht. Etwa, als er vor wenigen Wochen von einer Bühne brüllte: „Wir werden die Petralhada erschießen!“ Petralhada ist ein Schimpfwort für Anhänger der PT. Bolsonaro schnappte sich ein Kamerastativ und ahmte damit ein Sturmgewehr nach, das er abfeuerte. Die Menge jubelte, Bolsonaro lachte.

Kurz darauf wurde er selbst zum Opfer.

Ein geistig verwirrter Mann stach Bolsonaro am 6. September bei einem Wahlkampfauftritt ein Küchenmesser in den Bauch. Jair Messias Bolsonaro saß gerade auf den Schultern eines Anhängers und genoss es, Mittelpunkt der jubelnden Menge zu sein. Eine Notoperation rettete ihm das Leben. Sogleich wurde die Nachricht gestreut, der in Untersuchungshaft sitzende Täter sei Mitglied der Arbeiterpartei. Nur eine von tausenden Falschmeldungen, mit denen in diesem Wahlkampf Aggressionen geschürt werden.

Carolina Andrade hofft, dass Jair Bolsonaro Brasilien sicherer macht.
Carolina Andrade hofft, dass Jair Bolsonaro Brasilien sicherer macht.

© Philipp Lichterbeck

Bis zu diesem Wochenende führte Bolsonaro Wahlkampf vom Krankenbett aus – mittels sozialer Netzwerke. Wie Trump verachtet er traditionelle Medien und nutzt Facebook, Instagram und Twitter, um seine Botschaften zu verbreiten. Das Attentat hat ihm genutzt, weil er sich nun zugleich als Angegriffener und Angreifer präsentierten konnte. In einem der ersten Fotos aus dem Krankenhaus zeigte er seine Lieblingsgeste: die beiden Pistolen.

Bolsonaro ist Oberst der Reserve und verteidigt die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 als „glorreiche Epoche“. Die Diktatur habe lediglich einen Fehler begangen: „Sie folterte und tötete nicht.“ Das Statement ist so provokant wie falsch, denn die Diktatur folterte und tötete. Laut Brasiliens Wahrheitskommission, die alle Verbrechen der Diktatur aufklären soll, brachte sie 434 politische Gegner, 1200 Kleinbauern und 8350 Indios um. In seinem Abgeordnetenbüro hat Bolsonaro die Portraits der Präsidenten der Diktatur aufgehängt. Er nennt sie „meine Gurus“.

Wo ist die Alternative?

„Ich will keine Diktatur“, sagt Andrade. „Ich bin für die Demokratie.“ Warum sie dennoch für Bolsonaro stimmt? „Weil es keine Alternativen gibt.“ Tatsächlich scheint da niemand zu sein, der einen Kompass hat; der eine positive Vision von Zukunft formuliert und Mut macht.

So kann Bolsonaro ungestraft sagen, dass man Homosexuelle „schlagen“ müsse. Dass Schwarze „nicht mal zur Reproduktion“ taugten. Dass die Ureinwohner Brasiliens „keinen Zentimeter mehr für Reservate“ bekämen. Dass Bolivianer „Abschaum“ seien. Eine linke Abgeordnete bedrohte Bolsonaro sogar vor laufender Kamera: „Du verdienst es nicht, von mir vergewaltigt zu werden.“ Bolsonaro ist in dritter Ehe verheiratet, er hat vier Söhne, von denen drei ebenfalls in der Politik sind. Über seine einzige Tochter sagt er: „Da habe ich mal geschwächelt.“

All diese Aussagen führen dazu, dass 42 Prozent der Wähler in Brasilien nie für Bolsonaro stimmen würden. Bei gut ausgebildeten und wohlhabenden Männern kommt er am besten an, die Hälfte der weiblichen Wähler dagegen fühlt sich von ihm abgestoßen. Auch Carolina Andrade findet Bolsonaros Aussagen oft unmöglich. Aber seine Zitate würden auch von den Medien aus dem Kontext gerissen, verteidigt sie ihn. Vieles sei „Fake News“.

Andrades wichtigster Beweggrund, für Bolsonaro zu stimmen, ist ein Gefühl, das Millionen Brasilianer teilen: So kann es mit Brasilien nicht weitergehen. „Ich werde ausmisten“, verspricht Bolsonaro. Carolina Andrade will es ihm glauben.

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