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Furore. Ursula Krechel bekam für den Roman „Landgericht“ 2012 den Buchpreis. Das ZDF hat ihn jetzt verfilmt.

© dpa

Ursula Krechels "Landgericht" verfilmt: Deutsche Schuld vor aller Augen neu verhandelt

Mit dem Roman „Landgericht“ hat Ursula Krechel aus lang beschwiegenem Unrecht Kunst gemacht. Die Verfilmung läuft ab heute im ZDF als Zweiteiler.

In den straffen Polstern des Literaturhauses in der Berliner Fasanenstraße sitzt in einem eleganten Wollkostüm die Schriftstellerin Ursula Krechel und empfindet das seltene, aber große Gefühl der Genugtuung.

Genugtuung, die nicht ihre ist, sie hat sie sich geliehen von ihrem Richter Richard Kornitzer, alias Robert Michaelis, der nicht mehr lebt, um sie selber empfinden zu können. Und es sieht ganz so aus, als habe Ursula Krechel, Autorin des Romans „Landgericht“, mit literarischen Mitteln geschafft, woran die juristischen Mittel der Bundesrepublik über Jahre gescheitert sind: Eine Art Wiedergutmachung für eine Familie, eine Anerkennung ihrer Not, die Aufdeckung eines Missstandes in der Justiz, ja Aufklärung für das gesamte Land.

Man wusste seit den 60er Jahren, dass in der Justiz viele Richter aus der Nazi-Zeit weiter ihre Urteile fällen durften. Aber hat man nachempfinden können, was das heißt? Und was, wenn ein jüdischer Richter aus dem Exil in so ein Umfeld zurückkehrt?

Der TV-Zweiteiler ist Teil der Genugtuung

Deutschland habe ihren Richter wie die anderen jüdischen Emigranten 1933 „herausgeeitert“, sagt Krechel. Ihr beweglicher Mund hält so lange inne, bis genau das richtige Wort herauskommt.

Sie hatte 2012 für ihren Roman „Landgericht“ den Deutschen Buchpreis bekommen. Das Schicksal des Richard Kornitzer, basierend auf der wahren Geschichte des Richters Robert Michaelis, wird nun noch einmal erzählt. Es hat die Form eines „Historischen Zweiteilers“ angenommen, „Landgericht – Das Schicksal einer Familie“, am 30. Januar und 1. Februar zur besten Sendezeit. Es ist eine weitere Anhörung der Sache, ausgeweitet auf das gesamte Sendegebiet des Zweiten Deutschen Fernsehens. Auch das ist Teil der Genugtuung.

Ursula Krechel kommt aus Trier, sie hat viele Jahre lang Gedichtbände veröffentlicht, Hörspiele geschrieben und sich der seltenen Form des Langgedichts gewidmet. Parallel hat sie zu recherchieren angefangen wie eine Journalistin. Sie hat sich in die Schicksale von Emigranten in Schanghai eingelesen, und den Roman „Shanghai fern von wo“ geschrieben. Vor etwa acht Jahren stieß sie auf das Schicksal des Richters am Landgericht Mainz.

Der Schein trügt. Richter Robert Michaelis mit seiner Familie.

© ZDF und Privat

Kann die Kunst reparieren, was der Rechtsstaat versäumt hat?

Der Roman handelt von dem schnell denkenden, jüdischen Richter Richard Kornitzer, der 1933 emigrieren muss; seine "arische" Frau lässt er zurück, die Tochter und der Sohn, vier und sieben Jahre alt, fahren mit einem Kindertransport nach England. Als Kornitzer zurückkehrt nach der Nazizeit, zehn Jahre sind vergangen, die Familie ist versprengt, muss er feststellen, dass am Landgericht in Mainz die Nazis von damals noch immer am längeren Hebel sitzen. Da verhandeln Täter, die über die Entschädigung für die Opfer bestimmen. Die Demütigungen gehen weiter, sein Fortkommen wird blockiert. In seiner Personalakte finden sich süffisante Bemerkungen über den Richter, „der etwas massig wirkt“, und nun gesundheitliche Probleme habe. Dass das in Deutschland so war, ist eine Schuld, sagt Ursula Krechel, die lange beschwiegen wurde.

Die historische Demütigung war in den Akten ganz frisch erhalten

Sie hatte das Glück, mit dem nur diejenigen belohnt werden, die unermüdlich darauf hinarbeiten. Vor acht Jahren fiel ihr im Institut für Zeitgeschichte in Mainz ein juristisches Gutachten über das Leben im Ghetto in die Hände. Hinter den Akten schien ein sprachlich brillanter, aber menschlich wunder Richter auf.

Was ist das für einer gewesen, fragte Krechel, der so genau über dieses Thema befinden konnte? Sie schrieb das Landgericht Mainz an. Keine Antwort. Aber weil der Mann schon mehr als 30 Jahre tot war, durfte sie nach dem Landesarchivgesetz seine Personalakte einsehen. „Darin Intimes, Beförderungen, Streitigkeiten mit dem Dienstherrn“, sagt Ursula Krechel. Die historische Demütigung war ganz frisch erhalten, sie kroch ihr in den Körper. Krechel litt damals mit und zieht noch heute die Schultern zusammen.

Richard Kornitzer (Ronald Zehrfeld) kann wieder als Richter in Deutschland arbeiten, wird aber rasch mit einer fehlgeleiteten Wiedergutmachungspolitik konfrontiert.

© ZDF und Walter Wehner

Im Buch hat sie ihm den Namen Richard Kornitzer gegeben, ein Mann, der mit der Emigration seiner Ermordung zuvorkam. Dem in Abwesenheit die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen wird. Er kehrt heim und ist damit einer von jenen fünf Prozent, die sich überhaupt zurückgewagt haben. Ursula Krechel musste aus seiner Perspektive schreiben, denn „aus der Perspektive der Daheimgebliebenen wäre er ein seltsames Insekt“. Man würde nicht verstehen, warum einer unglücklich ist, der doch eine vermeintlich gute Stellung am Landgericht hat, ein Haus beziehen kann, das er aufgrund seines Status als „Opfer des Faschismus“ bekommt. Dass so einer innerlich völlig zermürbt ist.

Wodurch behält ein Mensch seine Form? Durch seine Familie? Eine Idee? Auch in eine Landschaft zurückzukehren, bedeute Heimat, wird oft gesagt. Bei dem Richter ist es der Glaube an die Rechtsstaatlichkeit. „Das Unbedingte eines für richtig erkannten Weges“, sagt Krechel. Seine Tochter holt er nach zehn Jahren per Gerichtsbeschluss aus ihrer neu angewachsenen Familie in England zurück, nur um festzustellen, dass ein Zusammenleben nicht mehr funktionieren kann. Kornitzer, sagt Krechel, pflegt „eine Vorstellung von Recht, die später in Selbstgerechtigkeit übergeht.“ Er verkämpft sich in Wiedergutmachungsansinnen, findet kein Gehör und verliert die Familie aus dem Blick. So kommt sie nicht mehr zusammen.

Es war ein unbeabsichtigter, nachträglicher Vatermord

Gibt es Gerechtigkeit mit Mitteln der Kunst? Krechels Mittel sind folgende: sorgfältige Recherche und Empathie.

Schnell war ihr klar, dass es auch eine Wiedergutmachungsakte geben musste. Die fand sie in Berlin. „Man stellt sich immer vor, dass ich mein halbes Leben in Archiven verbracht habe.“ Dabei stand sie zum Beispiel lange vor der Schaubühne, neben der Wilmersdorfer Wohnung ihrer beiden Figuren, um zu sehen, wie das Licht fällt, wenn Kornitzers Frau Claire auf ihrem Westbalkon steht, während sie das „Plopp Plopp“ von den von Erich Mendelsohn entworfenen Tennisplätzen hört. Sie war in Lindau, wo ihr Richter aus der Emigration ankommt. Und sie schrieb an die echte Familie, an den Sohn Georg, der in England seinen Vornamen um ein „e“ erweitert hatte und inzwischen in Mainz lebte. Zwei Briefe blieben unbeantwortet. Im zweiten kündigte sie ihren Anruf an. Er nahm ab. Ein schweres Atmen. „Lassen Sie doch diese alten Geschichten.“ Sie wusste ja längst mehr über ihn, als er ahnen konnte. Sie hatte zu lange recherchiert, um nicht zu wissen, wie sich der Horror in der zweiten Holocaust-Generation quasi als genetischer Code in die Familien prägt – und wie deren Entwicklung stehen bleiben kann. Krechel hatte den wütenden, zugleich abwegigen Brief gelesen, den George auf die harmlose Anfrage eines Verlages schrieb, der seinen Vater in ein Lexikon der deutschen Emigration aufnehmen wollte. Ob er bitte die Daten seines Vaters bestätigen könne? Nein. Konnte er nicht. Brachte er nicht über sich. Nicht, bevor nicht ausstehende Ansprüche geklärt würden. Robert Michaelis jedenfalls ist im Lexikon der Deutschen Emigration nicht aufgeführt. „Ein unbeabsichtigter, nachträglicher Vatermord.“

Richard (Ronald Zehrfeld) kann in Mainz wieder als Richter arbeiten und ist zuversichtlich, Entschädigungszahlungen für die NS-Opfer durchsetzen zu können. Esther (Barbara Auer), seine Sekretärin, zweifelt allerdings daran.

© ZDF und Walter Wehner

Mit der Tochter hatte Ursula Krechel mehr Glück. In einer Anthologie zu den Kindertransporten stieß sie auf das Buch „Person of no Nationality“ von einer gewissen Ruth Barnett. Und es war wirklich das Mädchen, das mit vier Jahren nach England gebracht worden war, wo sie heute, 81-jährig, noch immer lebt. Krechel trug nun auch eine innere Verantwortung gegenüber dem Stoff und der Familie Michaelis. Es gab einen Besuch am Grab des Richters in Mainz. „Und es gab die kecke Frage, ob nicht ich die uneheliche Tochter Kornitzers aus Kuba sei.“ Die hatte sie allerdings erfunden.

Ursula Krechel sagt: „Etwas wissen und daraus einen Roman machen, ist etwas völlig anderes.“ Neben den Dokumenten braucht es die Beschreibung des langsamen inneren Abbröckelns des Richters, der von einer Demütigung zur nächsten immer dicker und zugleich immer dünnhäutiger wird. Längst ist die Autorin zu seiner Anwältin geworden. Sie lässt ihren Erzählfluss um die kühl nüchternen, aber nur scheinbar objektiven juristischen Zitate-Inseln spülen.

Sie hält das Herz für die Schwachstelle aller Emigranten

100 Seiten des Romans sind schon geschrieben, da reist sie nach Kuba, wohin sie ihren Kornitzer verpflanzt hat – der echte Richter floh nach Schanghai. Krechel wollte prüfen, „ob das, was ich mir ausgedacht hatte, funktioniert“. Auf zwei jüdischen Friedhöfen über der Stadt fällt ihr auf, dass viele Gräber aus den Jahren 1945 und 46 stammen, nach dem Krieg also, vermutlich, als mit den Neuigkeiten aus Europa die Erkenntnis reifte, wie wenig da noch war. „Eine Möglichkeit ist, dass sie an gebrochenem Herzen starben.“ Das Herz sei mit Angst verbunden, der wörtlichen „Enge“. Sie hält das Herz für die Schwachstelle aller Emigranten. An einer Statistik wäre sie sehr interessiert.

Ursula Krechel lebt in Wilmersdorf. Die Entwurzelten der Gegenwart sind auch hier nicht mehr zu übersehen. Sie hat die Schlangen beobachtet, die bis zum Herbst vor der Außenstelle des Lageso in der Berliner Straße standen. Ihr fiel auf, dass der Großteil der ehrenamtlichen Arbeit im Rathaus am Fehrbelliner Platz von Studenten und älteren Damen geleistet wird, „obwohl ältere Herren vermutlich genau so viel Zeit hätten“. Die Männer seien es, die vor allem die Frage der Obergrenzen diskutieren.

Richard (Ronald Zehrfeld, l.) und Claire Kornitzer (Johanna Wokalek, r.) sind entschlossen, ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Sie sollen mit einer Hilfsorganisation nach England.

© ZDF und Walter Wehner

Von Schriftstellern, Theaterleuten und Filmemachern wird oft verlangt, sich in die Gegenwart einzumischen. „Deshalb gibt es im Theater so viele Schnellschüsse“, sagt Ursula Krechel. Aber man müsse vermeiden, dass die Kunst bloß abbildet. Das braucht Zeit. Vier Jahre hat es gedauert, bis aus dem Stoff ein Film geworden ist. „Genau so lange, wie ich an dem Buch geschrieben habe.“

Als Beate Klarsfeld 1968 dem damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger öffentlich eine Ohrfeige gab, war Ursula Krechel 21 Jahre alt, studierte in Köln Germanistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte, dichtend und frauenbewegt. „Klarsfeld ist ja wie eine aussätzige Hysterikerin behandelt worden, eine Nestbeschmutzerin.“ Vor diesem Bild verblasste damals ihr berechtigtes Anliegen, auf die Kontinuität des Nazi-Personals in den Ämtern der Bundesrepublik hinzuweisen.

Aufarbeitung war erst später möglich. Ursula Krechel jedenfalls wurde 2013 zum Neujahrsempfang ins Justizministerium geladen, „Landgericht“ hatte da unter Juristen schon Furore gemacht. „Denn genau die Personen, die ich schildere, waren ja ihre Lehrer.“

„Landgericht“, mit einer Auflage von 3000 gestartet, wurde nach dem Buchpreis noch mehr als 65 000 Mal verkauft. Wenn nur eine Person jeweils zwei Tage an den 492 Seiten liest, sind das 130.000 Tage Anhörung. Dazu kommt nun noch die Einschaltquote.

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