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Noten sind in der juristischen Profession alles.

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Verrat am System: Richter soll Staatsexamen manipuliert haben

Noch nie gab es einen Vorwurf wie diesen: Ein Richter soll Jurastudenten durchs Staatsexamen geholfen haben – gegen Geld. Das klingt nach schmutziger Gefälligkeit und kann doch viel mehr sein: ein Verrat am System.

Richter sind auch nur Menschen. Sie irren, sind ungerecht, lassen sich von Gefühlen, von Vorurteilen leiten. Selten jedoch kommt es vor, dass sie alle Maßstäbe verlieren und selbst zu Straftätern werden. Und noch nie gab es einen Vorwurf wie den, den seit Mittwoch das Landgericht im niedersächsischen Lüneburg verhandelt.

Hier sitzt ein Richter auf der Anklagebank, der juristischen Jobanwärtern mit seinem exklusiven Wissen als Prüfer über die Hürde des Staatsexamens geholfen haben soll. Gegen Geld. Was nach schmutziger Gefälligkeit klingt, mehr nach Verfehlung als nach Verbrechen, wäre, sollte die Anklage zutreffen, in Wahrheit eine Verletzung am Rückenmark des Rechtsstaats. Ein Verrat am System.

Weihnachtsbudenzauber in der Altstadt, Lichterschläuche glitzern in den Fenstern des Gerichtsgebäudes. Jörg L. bekommt davon nichts mit. Wachtmeister führen ihn in den Saal 121 des historischen Baus. Er sitzt in Haft, Fluchtgefahr. Er kommt auch gegen Kaution nicht frei. Es wird ein langes Verfahren, mit Terminen bis in den Sommer.

Im März dieses Jahres fliegt die Geschichte auf, ein Prüfling hatte sich offenbart. Vorher gab es schon einmal Gerüchte, Merkwürdigkeiten, ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannt. Dann der Haftbefehl. Jörg L. nimmt den Nachtzug nach Mailand, ist für die Behörden unauffindbar. Erst im April schlagen die Fahnder zu. Ein edles Hotel in der Innenstadt, der Jurist mag es gehoben. Die Polizei findet Kontovollmachten für die Ehefrau, eine geladene Pistole, 43 Schuss Munition und 30 000 Euro in bar. Es wirkte wie Mafia. Ein Irrtum, lässt sein italienischer Anwalt ausrichten, L. sei auf Reisen und unschuldig. Artig hatte er seinen Dienstherrn um Urlaub gebeten.

Das ganze Ausmaß ist noch unbekannt

Das beschädigte System wehrt sich jetzt. Es ist streng, so streng, wie man es sonst aus den staatlichen Prüfungen kennt. Auf Weisung des Justizministeriums sind die Behörden wegen Jörg L. fast 2000 Abschlüsse durchgegangen, gegen 15 Absolventen wurden Aberkennungsverfahren eingeleitet. Viele müssen noch bangen. Das ganze Ausmaß des mutmaßlichen Betrugs ist unbekannt. Sollte unter denen, die mit L.’s Hilfe in Amt oder Würden kamen, ein Richter sein, droht der Gau. Dann hätte ein Richter gerichtet, der dies nicht durfte. Womöglich müssten Prozesse neu geführt, Verurteilte aus Gefängnissen geholt werden. Im niedersächsischen Justizministerium spricht man ungern darüber. Alles Spekulation, heißt es.

Wird der 48-Jährige für schuldig befunden, kann es sein, dass er mehrere Weihnachten hinter Gittern verbringen muss. Er dürfte nie wieder als Richter arbeiten, auch nicht als Anwalt. Die Pension wäre weg. Seine Verteidiger warnen vor Suizid. Sie schildern ihn als Familienmenschen, der die Feiertage am liebsten bei Frau und Sohn verbringe. Die Anklage zeichnet ein anderes Bild.

Jörg L. sagt nichts, bestreitet nichts, gibt nichts zu, aber er stellt sich. Der groß gewachsene Mann bietet Zuschauern und Kameras ein breites Kreuz und einen klaren Blick auf seine Person zwischen den beiden Verteidigern, die seinem Auftritt den Rahmen geben. Wie einer, der viel liest, trägt er die Brille am Halsband. Die Hände sind hinter dem Rücken verschränkt. Keiner, der sich klein macht. Einer, der auf einer Stufe stehen will mit denen, die ihn anklagen, verteidigen, verurteilen könnten.

Elf Fälle, ein Muster

Oberstaatsanwalt Marcus Röske trägt die Anklage vor. Bestechlichkeit, Verletzung von Dienstgeheimnissen, versuchte Nötigung. Elf Fälle haben sie zusammengetragen, gegen viele Verdächtige laufen die Ermittlungen weiter. Sie müssen nicht nur um ihre Abschlüsse fürchten, sondern auch eine Anklage wegen Bestechung. In Hamburg soll L. sogar einen Gehilfen gehabt haben. Niemand wird sich melden, dem Verfahren drohen. Aber einige haben sich gemeldet, bei denen der Richter abgeblitzt sein soll. Als die Sache bekannt wurde, trauten sie sich. Zuvor soll Jörg L. ihnen gedroht haben, sie wegen übler Nachrede anzuzeigen.

Elf Fälle, ein Muster. Immer geht es um das zweite Staatsexamen; die Kandidaten, überwiegend Frauen, waren durchgefallen oder wollten eine Chance auf Verbesserung. Immer soll der Richter Schicksal gespielt haben, als Retter oder Helfer. Denn er, so Staatsanwalt Röske, habe als Referatsleiter im Prüfungsamt die Aufgaben gekannt, einschließlich Vermerke der Prüfer und sogenannter Aktenvorträge, bei denen die Prüflinge mündlich eine Falllösung entwickeln müssen. Jörg L. wusste, wer in Nöten war, soll Lösungsskizzen angefertigt und zum Verkauf angeboten haben. Röske spricht von der „Gefahr der unkontrollierten Weitergabe“ und der „Entwertung der Prüfung“, wo doch Nachkommastellen die Zukunft entscheiden können.

Jörg L. vor Gericht.
Jörg L. vor Gericht.

© dpa

Denn der deutsche Richter ist mehr als ein Beruf. Er ist das Ziel der juristischen Ausbildung überhaupt, auch für die, die Staatsanwalt oder Rechtsanwältin werden wollen. Zwei staatliche Examina, dann ist es geschafft, die Befähigung zum Richteramt erworben, wie das Gesetz formuliert. Doch nur ein kleiner Prozentsatz gelangt in den Job. Der Staat will nur die Besten. Um sie rangeln auch die internationalen Anwaltskanzleien, die erfolgreiche Absolventen mit teils sechsstelligen Einstiegsgehältern und der Aussicht, als Partner Millionär zu werden, in ihre Knochenmühlen locken.

Durchfaller soll er direkt angesprochen haben, man kannte sich

Aber es gibt auch das Heer der anderen: das große der guten Mittleren und unteren Durchschnittlichen; und das zuweilen kaum kleinere der Durchfaller.

Wer hervorragt, dem sind alle Karrierewege geebnet. Mancher nimmt nach dem ersten Examen den Abzweig in andere Branchen, stellt sich bei Verbänden oder Firmen vor. Die aber, die das Referendariat auf sich nehmen, wollen die staatliche Weihe. Scheitert ein Anlauf, gibt es einen zweiten. Scheitert auch dieser, war alles umsonst.

L. soll Durchfaller direkt angesprochen haben, man kannte sich. Es kam zu Treffen in Cafés und Hotels oder auch mal in der Wohnung. Von außen sah es so aus, als kümmere sich da einer. Nach ein paar persönlichen Worten sei L. unvermittelt zur Sache gekommen. Pro Klausur soll er zwischen 2000 und 5000 Euro gefordert haben, manchmal weit mehr, was sich als unrealistisch erwiesen haben soll. Jörg L. soll nachsichtig reagiert, auch mal Stundung angeboten haben, bis man später im Job gut verdiene; mit einer Kandidatin soll er auch intim gewesen sein. Mal wollten welche nur bestehen, mal eine gute Note. Die Staatsanwaltschaft beruft sich auf Zeugen, die das Angebot ausschlugen, und trägt SMS-Nachrichten des Angeklagten vor, in denen er klausurentscheidende Tipps gegeben haben soll.

Lastesel der Justiz

L. war gerne Richter. Amtsrichter. Manche nennen sie die Lastesel der Justiz. Am Anfang des Instanzenzuges. Doch es kommt auf einen selbst an. Amtsrichter sind freie Leute, bei kleinen Streitwerten ist ihr Urteil das erste und letzte. Ohne Ambition auf Höheres, ohne Wettlauf um die Zahl erledigter Verfahren und mit einer Prise beamtischen Phlegmas ist es ein Job, der einen gut leben lässt. Ein Traumjob für Jörg L., der nach Aussagen in seinem Umfeld nicht vorhatte, seinen Rücken über Akten krumm werden zu lassen. Vor allem bietet er Chancen auf Zuverdienst.

Als Repetitor. Die privaten Nachhilfekurse sind so professionell geworden, dass sie inzwischen unentbehrlich sind. Der Gang zum Repetitor gilt für Studenten unter Examensdruck als selbstverständlich, nicht nur für die schwachen. Auch Top-Leute auf der Jagd nach Spitzennoten gönnen sich die Auffrischung. Es wird Qualität erwartet und meist geboten. Nebenbei-Trainer können es auf einen Tagessatz von bis zu 1000 Euro bringen.

Die Studenten erleben ihn als zugewandt, interessiert

Für den nur bedingt ausgelasteten Amtsträger eine sympathische Zweitkarriere, acht Jahre lang. Die Studenten erleben Jörg L. als zugewandt, interessiert. Dann 2011 der Wechsel ins Justizprüfungsamt in Celle. Hier verbot sich der Repetitorenjob. Zugleich blieben Kontakte erhalten, während Jörg L. in amtlichen „Ergänzungsvorbereitungskursen“ Durchfaller für den nächsten Anlauf präparierte. Ein Mann, der den Stoff kannte, aus allen Perspektiven. Und den Druck, der auf den jungen Leuten lastet. „Herr L. wird auf Anraten seiner Verteidiger keine Stellungnahme abgeben“, sagt sein Hamburger Anwalt Oliver Sahan. Dabei wird es wohl bleiben. Die Ankläger werden jede Einzeltat nachweisen müssen, die Verteidiger bemüht sein, jeden Verdacht zu erschüttern. Wer weiß, was noch kommt?

Es gilt, sich zu beeilen, Untersuchungshaft darf nicht zu lange dauern. Es soll ein makelloser Prozess werden, das schuldet die Justiz sich selbst. Dass es damit nicht so einfach wird, zeigt ein Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin der Strafkammer Sabine Philipp. Sie ist selbst seit Jahren Prüferin im zweiten Staatsexamen. Anwalt Sahan meint, sie könnte sich durch die angeblichen Taten des Angeklagten vorgeführt vorkommen und „in ihrem Engagement verraten“. Sogar von Rachsucht ist die Rede. Darüber werden nun andere Richter entscheiden müssen. Das System, das nach außen so hermetisch wirkt, sich so perfekt gibt, das nüchtern bis zur Kälte ist und so streng sein kann: Es ist ein empfindliches System.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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