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Deniz Yücel, 43.

© Privat/Deniz Yücel/dpa

"Welt"-Journalist in türkischer Haft: Alle für Deniz

Seit Wochen sitzt Deniz Yücel in Istanbul in Haft, seit Wochen kämpfen Unterstützer für seine Freiheit. Ein Besuch bei seiner Mutter in Flörsheim und den engsten Freunden in Berlin.

Und wenn sie Deniz irgendwann gehen lassen, wenn er endlich raus darf aus dem Gefängnis und auch aus dem Land, wenn er ins nächste Flugzeug steigt und zu guter Letzt wieder im elterlichen Wohnzimmer vor der grauen Fernsehcouch steht, was machen sie dann als Erstes? Wild feiern? Esma Yücel, 74, stutzt. Lächelt mild. Na, das Erste, was sie dann mache, sei: ihrem Sohn verklickern, dass sie ihn nicht mehr gehen lasse und er seinen Beruf bitte künftig in Deutschland ausüben soll.

In einer Wohnung im hessischen Flörsheim, keine zehn Kilometer südwestlich von Frankfurt, liegt ein Stapel zusammengeschnürter Zeitungen neben der Balkontür auf dem Boden. Jeden Tag kauft sich Esma Yücel eine „Welt“ und eine „taz“, um nachzusehen, ob Neues über Deniz drinsteht. Der Stapel ist inzwischen fast kniehoch. Dazu die Fernsehnachrichten im Stundentakt. Die Yücels schalten nur deutsche Sender ein. Der einzige türkischsprachige, der noch unabhängig berichte, werde in Flörsheim nicht ins Kabelnetz eingespeist.

Seit mehr als 50 Tagen befindet sich ihr Sohn Deniz Yücel, 43, in türkischer Untersuchungshaft. Im Hochsicherheitsgefängnis Silivri nahe Istanbul sitzt er in einer Sechs-Quadratmeter-Zelle. Offizieller Vorwurf: Volksverhetzung und Verbreitung von Terrorpropaganda. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass auch nur ein Fünkchen davon wahr sein könnte. Zur Begründung seiner Anschuldigungen hat der zuständige Staatsanwalt lediglich Artikel vorgelegt, die Yücel als Korrespondent für die „Welt“ schrieb. Wie laut der Protest von Deniz Unterstützern in Deutschland ist, dass es Autokorsos gibt und Postkartenaktionen und deutliche Politikerworte, ja dass es scheint, als nehme das halbe Land am Schicksal ihres Sohnes Anteil, dies alles bedeute ihr viel, sagt Esma Yücel. Und sie sei dankbar dafür, wie vehement sich die Bundesregierung für ihren Sohn einsetze.

Er wirkt jetzt wieder zuversichtlich

„Er sieht gut aus, Mama“, sagt Ilkay Yücel, 42, seine Schwester. „Viel besser als beim ersten Mal.“ Gemeinsam mit dem Vater hat sie ihn am Montag im Gefängnis nahe Istanbul besucht. „Der Bart ist ab.“ Und er wirke jetzt wieder zuversichtlich. Einen Tag später durfte ihn auch der deutsche Generalkonsul erstmalig besuchen. Seit der Festnahme des Bruders ist Ilkay Yücel im Dauerstress, hält Kontakt zu den Anwälten, kümmert sich um die Eltern und die eigene Tochter, tritt im Fernsehen auf und bei Soli-Veranstaltungen.

Im Bücherregal der Yücels in Flörsheim steht ein Bild von Deniz mit langen Wuschelhaaren und Zigarette in der Hand. Esma Yücel hat ihrem Sohn einen Brief ins Gefängnis geschrieben, in dem steht, er möge bitte auf seine Gesundheit achten und nicht so viel rauchen. Der Brief wurde ihm bis heute nicht ausgehändigt. Esma Yücel will ihren Sohn bald selbst besuchen. Bislang hat sie sich nicht getraut. Sie fürchtet, sie müsste sofort losweinen, und das würde Deniz ja auch nicht helfen. Sagt sie und weint los.

Die Tochter tröstet. „Deniz lässt sich nicht unterkriegen.“ Das stimmt natürlich, sagt Esma Yücel, er sei schon immer eigenwillig gewesen und auch aufmüpfig und stur, wenn ihm etwas wichtig war. Dann erzählt sie von der Demo, zu der er Anfang der Neunziger als Jugendlicher aufrief, um gegen den drohenden Irakkrieg zu protestieren. Außer Yücel kam niemand. Also stand er alleine auf der Straße mit seinem selbst gebastelten Schild, und die Polizisten amüsierten sich. War ihm egal. Er hat es durchgezogen. Esma Yücel erzählt auch von dem Schulzeugnis, in dem stand: „Deniz ist der Ansicht, dass allgemeingültige Regeln für ihn nicht gelten.“

Die frühen Jahre in Flörsheim

Vor genau 45 Jahren sind die Yücels nach Flörsheim gezogen. Ein Onkel war in der Schokoladenfabrik von Sarotti angestellt, die meisten anderen türkischen Gastarbeiter im nahe gelegenen Stammwerk von Opel in Rüsselsheim. Bald kam Deniz zur Welt, ein Jahr später Ilkay. Der Vater arbeitete in einer Keramikfabrik, die Mutter in einer Krankenhausküche. In den Sommerurlauben zeigten sie ihren Kindern die Türkei. Ansonsten lernte Deniz Yücel das Land seiner Eltern vor allem durch deren Erzählungen kennen. Viele handelten davon, dass die Türkei unter einem Demokratieproblem leide. Dass Meinungsfreiheit und Rechtstaatlichkeit dort nicht zu vergleichen seien mit der Welt, in der er selbst aufwuchs.

Die Flörsheimer Yücels haben Verwandte in der Türkei und viele Freunde. Seit ihr Sohn in Haft ist, hat Esma Yücel alle Kontakte eingestellt. Sie will nicht, dass die, die dort leben, in das Drama hineingezogen werden.

Freunde rieten ihm, nicht wieder in die Türkei zu gehen

Ilkay Yücel, 42, hält Kontakt zu den Anwälten in der Türkei und tritt bei Kundgebungen auf.
Ilkay Yücel, 42, hält Kontakt zu den Anwälten in der Türkei und tritt bei Kundgebungen auf.

© Andreas Arnold/dpa

400 Kilometer von Flörsheim entfernt sitzt Mustafa Ünalan im Café eines Einkaufscenters in Berlin-Tempelhof. Er ist einer der engsten Freunde von Deniz Yücel, sie lernten sich 1991 auf der Frankfurter Buchmesse kennen. Ünalan hat Yücel gefragt, ob der nicht zum Politikstudium nach Berlin kommen wolle. Die ersten Monate schlief Yücel bei Ünalan im Gästebett. Zusammen haben sie linke Demonstrationen besucht. Und abends in Ünalans Kneipe in der Wiener Straße Kristallweizen getrunken. Yücel half Ünalan bei dessen Totalverweigerung, zusammen mit Wolfgang Kaleck, dem heutigen Snowden-Anwalt. Yücel nennt Ünalan „großer Bruder“. Und auch ihr Freundeskreis hat einen Namen: „die Gurkentruppe“.

Mustafa Ünalan sagt, man solle sich jetzt nicht täuschen. „Deniz wusste, was er tat.“ Auf welches Risiko er sich einließ, als ihm das türkische Regime die Akkreditierung verweigerte. „Ich riet ihm, da wegzubleiben.“ Aber Yücel habe sich anders entschieden. Die Aufgabe sei ihm zu wichtig gewesen. Er habe sich auch verantwortlich gefühlt gegenüber den Menschen, die unter den Veränderungen in der Türkei litten. Die unabhängige Berichterstattung brauchten, gerade in diesen Zeiten.

Ein Treffen in der Kneipe

An dem Tag Mitte Februar, als Deniz Yücel festgenommen wurde, haben sich seine engsten Berliner Freunde abends in einer Kreuzberger Kneipe getroffen. Mustafa Ünalan war dabei und auch Ivo Bozic, der Mitbegründer der linken Wochenzeitung „Jungle World“, für die Yücel in Berlin seine ersten Texte schrieb. Sie saßen da und dachten: Wie können wir helfen? Eine simple Demo erschien nicht kraftvoll genug, „irgendwie nicht denizmäßig“, sagt Ivo Bozic. So kam die Idee mit dem Autokorso, Yücel hatte in einer Kolumne 2006 von der Liebe der Türken zum Autokorso geschrieben. Alle in der Runde zogen ihre Smartphones und googelten, wie man eigentlich so einen Korso anmeldet. „Dann passierte noch etwas deniztypisches“, sagt Bozic, nämlich: Sie hätten nicht ewig gequatscht und sich vertagt, sondern gleich einen Korso für den nächsten Tag angemeldet. So habe er seinen Freund immer erlebt. Wenn Yücel eine gute Idee habe, sei er geradezu besessen von ihr. Stecke alle Energie rein.

Inzwischen haben in 14 deutschen Städten Autokorsos stattgefunden. Ivo Bozic sagt allerdings auch, da sei diese Ungewissheit, ob der öffentliche Protest überhaupt hilfreich sei. Es könnte schließlich sein, dass die Empörung und die Aufmerksamkeit am Ende dazu führten, dass sich Erdogan „jetzt erst recht stur stellt und Deniz extra lang schmoren lässt“. Man könne es schlicht nicht wissen.

Den Entschluss, nach Berlin zu ziehen, hat Deniz Yücel damals zusammen mit Doris Akrap gefasst. Auch sie ist Journalistin, heute bei der „taz“, auch sie ist aus Flörsheim, auch sie Teil der „Gurkentruppe“. Warum eigentlich Gurkentruppe? Akrap sagt, der Name gehe auf ihre kollektive Unfähigkeit zurück, geordnet an einer Demonstration teilzunehmen. Meistens seien sie zu spät gekommen oder hätten den Stadtplan vergessen und sich in fremden Orten verirrt, manchmal einfach verschlafen. „Wie eine Gurkentruppe eben“, sagt Doris Akrap. „Wie eine miese Fußballmannschaft.“

Wovon Yücel früh schwärmte

Als sie Deniz Yücel kennenlernte, war sie elf. Wie dessen Schwester Ilkay spielte sie im Flörsheimer Akkordeonverein. Einmal übten sie bei den Yücels zu Hause deutsche Märsche, da kam der Bruder ins Zimmer und pampte sie an: „Was ist denn hier los?“ Frech habe er gewirkt, ausgesehen wie der „letzte Heavy-Metal-Typ“. Später waren Doris und Deniz mehrere Jahre lang ein Paar. Akrap sagt, Yücel habe schon als Jugendlicher von der Türkei geschwärmt. Aber nie von den weißen Stränden oder imposanten Bauwerken, sondern von Menschen wie dem Schriftsteller Aziz Nesin, die das Land demokratischer gestalten wollten. Nesin stand 200 Mal vor Gericht.

Im Gefängnis durfte sie Yücel noch nicht besuchen. Aber Ende Februar hat sie ihn kurz im Justizpalast von Istanbul abgepasst, auf dem Gang vor der Tür des Staatsanwalts, an dem Tag, als er dem Haftrichter vorgeführt wurde. Der sollte entscheiden, ob Yücel freikäme oder in U-Haft. Wenn Akrap jetzt darüber spricht, regt sie sich auf. Das liegt daran, dass sie das Protokoll der Verhandlung mittlerweile fast auswendig kennt und damit die ganze Dimension des Irrsinns.

Seine Texte wurden für den Richter falsch übersetzt

Beim Korso durch Yücels Geburtsstadt Flörsheim dirigierte der Bürgermeister die Autos.
Beim Korso durch Yücels Geburtsstadt Flörsheim dirigierte der Bürgermeister die Autos.

© Andreas Arnold/dpa

Ein Hauptvorwurf gegen Yücel besteht darin, dass er im Oktober 2016 in der „Welt“ einen Witz wiedergab. Der geht so: Ein Türke und ein Kurde werden zum Tode verurteilt, beide dürfen einen letzten Wunsch äußern. Der Kurde will noch einmal seine Mutter sehen. Der Türke will, dass der Kurde seine Mutter nicht sehen darf.

Deniz Yücel hat diesen Witz eingeleitet mit der Bemerkung, der werde von Kurden gern erzählt, um die Haltung des türkischen Staats zu illustrieren. In der Übersetzung seines Artikels ins Türkische, die dem Haftrichter vorgelegt wurde, ist dieses Detail unterschlagen worden. Da liest es sich so, als handle es sich um einen Witz aus Yücels Feder.

Oder das Interview mit Cemil Bayik. Im Sommer 2015 war Yücel im nordirakischen Kandil-Gebirge, hat dort die Nummer zwei der kurdischen PKK getroffen. Das Interview sieht der Richter als Beleg für Yücels Terrorpropaganda. Dass Yücel kritische Fragen stellte, dass er Bayik auf Verbrechen der PKK und Hinrichtungen in den eigenen Reihen ansprach, spielte keine Rolle. „Ich kenne keinen Journalisten, der sich solche Fragen je getraut hat“, sagt Doris Akrap. „Es ist das Gegenteil von Propaganda.“

Mustafa Ünalan, der Mann aus der Gurkentruppe, der Yücel in dessen ersten Berlin-Monaten bei sich aufnahm, sagt, Yücel habe nie mit der PKK sympathisiert. Im Gegenteil, für sie beide habe immer gegolten: „nicht das Militär, nicht die Guerilla“.

Eine denkwürdige Pressekonferenz

Ünalan kann den Zeitpunkt, als sein Freund in der Türkei Staatsfeind wurde, genau benennen. Im Februar 2016, als Angela Merkel in Cankaya den türkischen Ministerpräsidenten traf und sich Yücel bei der Pressekonferenz mit einer bemerkenswerten Frage an die Kanzlerin wandte: ob sie die Missstände in der Türkei ignoriere, weil sie in der Flüchtlingspolitik auf Erdogan angewiesen sei. Yücel erinnerte daran, dass die Türkei im internationalen Ranking der Pressefreiheit auf Platz 159 stehe und dass Menschenrechtler die Zustände in den Kurdengebieten anders einschätzten als so, „wie das der Herr Ministerpräsident gerade dargestellt hat“. In ihrer Antwort sei Merkel ausgewichen, sagt Ünalan. „Damit gab sie Deniz zum Abschuss frei.“ Gleich danach hetzten die ersten türkischen Zeitungen. „Religionsfeind“ und „PKK-Anwalt“ wurde er genannt. Als die Yücels in Flörsheim in den Nachrichten erfuhren, ein Journalist habe in der Türkei Ärger wegen einer kritischen Frage, war ihnen gleich klar, wer gemeint sein musste.

Am Esstisch in ihrem Wohnzimmer sagt Esma Yücel, sie und ihr Mann hätten die Berufswahl ihres Sohnes immer gut gefunden. Bis zu dem Tag, als er ihnen erzählte, er wolle nach Jahren in Berlin nun in die Türkei ziehen und dort Korrespondent werden. Sie wussten, das würde gefährlich. „Hätte er uns um Erlaubnis gefragt, hätten wir nein gesagt. Dummerweise war er da schon über 40.“ Esma Yücel schmunzelt. Das Ironische, das viele Texte ihres Sohnes durchzieht, das kann sie auch.

Die Proteste für Deniz Freilassung gehen weiter. Diese Woche gab es Veranstaltungen in Hamburg und Wien, am Sonntag fand der nächste Autokorso in Berlin statt. Am Mittwoch wurde bekannt, dass Deniz Yücel der Theodor-Wolff-Preis verliehen wird, die renommierteste Auszeichnung der deutschen Zeitungsbranche. Esma Yücels Papierstapel wird noch wachsen. Eine Bekannte hat ihr neulich gesagt, ihr Sohn sei jetzt ungefähr so berühmt wie Che Guevara.

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