zum Hauptinhalt
Kleiner Kreis. Rund 107 000 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde in Deutschland. Konvertiten gibt es nur etwa 100 im Jahr.

© Caro / Teich

Zwei Berliner konvertieren zum Judentum: In der Probezeit

Von der Informatik kam er zur Kabbala, von der Zahlenmystik zum Judentum. Jetzt möchte der Berliner Juan de la Murga mit seiner Frau konvertieren. Doch das dauert, und der Weg ist kein leichter.

Juan de la Murga legt den schwarzen Wintermantel und den Wollschal ab und nimmt eine der schwarzen Kippas, die am Eingang der Synagoge ausliegen. Dann setzt er sie sich auf den Hinterkopf. Wie jeden Freitagabend.

Es geht auf sieben Uhr zu. Der Sabbat naht. Juan und seine Ehefrau Kate besuchen die Sabbat Messe in der Sukkat Shalom Synagoge in Berlin Charlottenburg. Die junge Frau ist zierlich, aufgeweckt, braunäugig. Sein Haar ist dunkel, kinnlang. Eine breit umrandete Brille, ein lichter Bart. Seit sechs Monaten kommen der Informatiker und die Studentin der Musiktherapie hierher. Und doch stehen sie erst ganz am Anfang ihres Übertritts ins Judentum.

Um die hundert jüdische Konvertiten gibt es pro Jahr in der Bundesrepublik. Die jüdische Gemeinde Deutschlands ist mit heute rund 107 000 Mitgliedern klein. Darüber hinaus wird den Interessenten der Eintritt auch schwerer gemacht als bei anderen Religionen, denn im Judentum besteht gar nicht der Wunsch zu missionieren. „Wahrscheinlich wird es insgesamt eineinhalb Jahre dauern“, sagt de la Murga. „Zumindest hier im Reformjudentum. Bei den Orthodoxen hätten wir sicher vier Jahre vor uns.“

Muslimische oder christliche Konvertiten haben es im Vergleich dazu leicht – der Islam verlangt von künftigen Glaubensgenossen lediglich die Shahada, die muslimische Glaubensformel, vor zwei männlichen Zeugen aufzusagen. Zum Islam treten jährlich mehr als 4000 Menschen in Deutschland über. Auch die Taufe für die Aufnahme zum Christentum hat man schnell hinter sich.

Juan de la Murga muss durch eine „harte Schule“, wie er sagt: Unterweisung in jüdischer Lebensführung, Sabbat halten, Hebräischunterricht, Speisegesetze, die Beschneidung. Eine Entscheidung, die nach den Anschlägen auf einen koscheren Supermarkt in Paris und nach der Schießerei in Kopenhagen vielleicht umso erstaunlicher ist, da sich viele Juden in Europa nun wieder unsicher fühlen. In einer Ansprache vor zwei Monaten bedauerte Joseph Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Europa, dass er derzeit eine Zunahme von Antisemitismus beobachten müsse. Aus diesem Grund bat Juan de la Murga auch darum, seinen Namen und den seiner Frau in diesem Artikel zu ändern.

Er glaubt er hat jüdische Wurzeln. Einen Beweis hat er nicht

Trotzdem ist sich das Ehepaar sicher. „Meine Mutter hat mir von klein auf davon erzählt, dass wir vielleicht jüdische Wurzeln haben“, sagt der Spanier, der nicht getauft wurde. „Das Dorf aus dem ich stamme, ein kleiner Ort in der Nähe von Barcelona, besaß früher eine große jüdische Gemeinde.“ Sein richtiger Name legt eine Verwandtschaft nahe. „Aber einen Beweis habe ich nicht.“

Am Eingang nickt Juan den zwei Polizisten zu. Wie jede jüdische Institution in Berlin ist auch die Sukkat Shalom Synagoge aus Angst vor Anschlägen bewacht. Das Gebäude ist sparsam dekoriert, der Innenraum fast karg. Neonbeleuchtet. Zehn Holzbankreihen mit aufklappbaren Tischen wie im Vorlesungssaal oder Konfirmationsunterricht. „Hallo Süße!“, ruft eine grau gelockte Dame Juan de la Murgas Frau vom anderen Ende des Raumes zu. Er lacht. „Ja es ist ganz sicher auch ein Gefühl der Zugehörigkeit, das ich hier suche“, sagt er.

Vor sechs Jahren ist de la Murga wegen eines Jobangebots als Informatiker aus Spanien nach Berlin gezogen. Grau, grob und wenig sinnlich, so habe er Berlin am Anfang empfunden. Die Arbeit als Programmierer machte ihm Spaß. Zahlen, Codes und Formeln üben eine unglaubliche Anziehungskraft auf ihn aus. „Es lag nah, dass ich mich früher oder später mit der Kabbala, jüdischer Zahlenmystik, Geometrie und Meditation, auseinandersetzen würde.“ Er sei immer schon spirituell veranlagt gewesen. „Eine andere Religion, etwa Islam oder Christentum, kam aber überhaupt nie infrage für mich.“ Ein personalisierter Gott wie bei den Christen? „Das wäre für mich zum Beispiel völlig undenkbar. Das Judentum emanzipiert mich, ich muss niemanden anbeten.“

Allerdings sei er doch von vielen belächelt worden, dass er ausgerechnet über die Kabbala zum Judentum gekommen sei – auch angefeindet wurde er. „Die Kabbala ist den Alten und Weisen vorbehalten, so sagt man zumindest. Eine geheime Wissenschaft. Und ich bin noch nicht einmal Jude!“ Überhaupt herrsche große Rivalität unter den Konvertiten. Alle seien sehr strebsam, jeder wolle der beste Jude sein. „Und dann kommt da einer daher und meint, er wäre Kabbalist. Das hat vielen gar nicht gefallen.“

Der wöchentliche Unterricht, das viele Lernen – noch macht es ihm Spaß

Kleiner Kreis. Rund 107 000 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde in Deutschland. Konvertiten gibt es nur etwa 100 im Jahr.
Kleiner Kreis. Rund 107 000 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde in Deutschland. Konvertiten gibt es nur etwa 100 im Jahr.

© Caro / Teich

Und auch das Verhältnis zwischen den den Konvertiten und ihren zukünftigen Glaubensgenossen ist oft nicht einfach. Noch immer hält sich vor allem in streng religiösen Kreisen die Meinung, dass Konvertiten niemals ebenbürtig mit einem „geborenen Juden“ sein können. Michael Levinson ist Tora-Schüler in Jerusalem. Dort führt er ein orthodoxes Leben. Er sagt: „Ich fände es nicht richtig, wenn nun auch Konvertiten einfach so den gleichen Status erhalten wie ich und meine Familie.“ Sie seien nicht jüdisch aufgewachsen, nie ins jüdische Ferienlager gefahren, hätten nie eine traditionelle Erziehung genossen. „Für mich sind sie künstliche Juden.“ Levinson glaubt, dass die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion nicht nur durch die Übernahme der Glaubensregeln bestimmt wird, sondern durch eine gewachsene kollektive Lebensweise, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Das könne man nicht durch Unterricht aufholen.

Auch deshalb hat Juan de la Murga gehadert mit seiner Entscheidung. Lange habe er also gezögert, sei nur ab und zu in die Synagoge gegangen. Aber Anfang letzten Jahres, kurz nach seinem 32. Geburtstag, wurde der Drang immer stärker. „Es stand plötzlich ganz klar vor mir: Komme was wolle, du musst das jetzt tun.“ Der wöchentliche Unterricht, das viele Lernen, die Ernährung – noch mache ihm alles aufrichtig Spaß, sagt de la Murga. „Kate und ich essen beide vegetarisch“, erklärt er, „eine koschere Küche, das heißt vor allem die Trennung von Fleisch- und Milchprodukten, ist für uns also kein Problem.“ Und die Beschneidung? „Ich habe sowieso eine Vorhautverengung. Ist das nicht praktisch“, scherzt er. „Ich hätte das schon längst machen lassen sollen.“

Das silberne Klingelschild von Walter Rothschild ist das einzige in dem Charlottenburger Wohnhaus, das eine Kamera besitzt. „So kann ich sehen, wer mich besuchen kommt“, sagt der ältere Herr mit weißem Bart, doch der Witz steht im Widerspruch zu seinem düsteren Gesicht. „Man darf das Risiko nicht verkennen“, erklärt der Rabbi, der für sechs Gemeinden in Deutschland Konvertiten betreut.

Bei ihm stapeln sich die Akten angehender Konvertiten

Seine Wohnung ist geräumig, lichtdurchflutet, es riecht nach Büchern. Jedes Regal ächzt unter ihrer Last. Rabbi Rothschild ist ein belesener Mann. Die Literatur für seine Dissertation über die Eisenbahnen im Nahen Osten nimmt eine ganze Bücherwand ein. Daneben stapeln sich die Ordner angehender Konvertiten.

Wen sich jemand bei ihm für einen Übertritt zum Judentum bewirbt, will Rothschild einiges von ihm wissen. Ist er verheiratet? Was will der Partner? Haben sie Kinder? Wie ist die Religion mit der Arbeit vereinbar? Ist der Kandidat aus der Kirche ausgetreten? Auch ein ausführliches Motivationsschreiben muss der Bewerbung beiliegen. „Nicht jeden nehme ich an“, sagt Rothschild, „aber der Mythos, dass man immer erst dreimal abgelehnt werde, stimmt so nun auch nicht.“

Ständig sitzt er im Zug und fährt von einem Ort zum anderen. „Ich besuche die Konvertiten und schaue mich bei ihnen um.“ Für den Rabbi ist es wichtig, dass es eine Gemeinschaft von Gläubigen gibt, der sich die Neu-Juden anschließen können. Ohne Gleichgesinnte in der Nähe kann die Konversion sonst leicht zur Isolation und Ausgrenzung führen. „Wenn du Basketball spielen willst, brauchst du auch ein Team in der Nähe“, sagt Rabbi Rothschild. „Sonst gibt es keinen jüdischen Friedhof, koscheres Essen muss man über das Internet bestellen und der Chef auf der Arbeit sieht es bestimmt nicht gern, wenn man sich ständig an merkwürdigen Feiertagen freinimmt.“

Auch Juan de la Murga hat sein „Coming-out“ auf der Arbeit noch nicht über sich gebracht. Für ihn ist der Job das größte Hindernis auf seinem Weg zum Judentum. Seine Familie und seine Freunde seien seiner neuen Orientierung gegenüber sehr aufgeschlossen. „Aber meine Kollegen sind alle sehr rationale Menschen. Religion wird dauernd kritisiert. Das macht mir schon Sorge, weil ich nicht weiß, ob ich als angehender Jude da noch ernst genommen werde“, sagt er.

Warum Kate de la Murga Weihnachten fehlen wird

So langsam werde die Heimlichtuerei aber zum Problem. Sobald die Sonne sich am Freitag senkt, fällt es Juan de la Murga immer schwerer, noch Arbeit zu tun. „Ich verstoße gegen den Sabbat. In letzter Zeit versuche ich deswegen einfach, mir für den Freitag Aufgaben aufzusparen, die mir nur Freude bereiten und bei denen ich keine Anstrengung empfinde.“ Er weiß, dass das keine endgültige Lösung sein kann. „Aber ob ich jemals so weit sein werde und meinen Kollegen davon erzähle? Manchmal denke ich, dass es einfacher wäre, die Stelle zu wechseln und von null, ganz offiziell als Jude, anzufangen.“ Auch für seine Frau ist es schwierig, die Sabbat-Ruhe an jedem Wochenende einzuhalten. „Ich arbeite nebenher in einem Café. Soll ich mir immer samstags freinehmen?“

Vor einem Jahr haben sie und Juan geheiratet. Er habe große Angst gehabt, sagt Juan de la Murga, dass seine Frau Kate niemals mit ihm konvertieren würde. Ihre Eltern sind amerikanisch, katholisch, gläubig. „Ich war schon immer religiös, aber so richtig gefunkt hat es nie“, sagt Kate de la Murga. Im August 2014 bat sie ihr Mann, gemeinsam mit ihm in die Synagoge zu gehen. Erstaunlich schnell habe sie sich mit dem Gedanken an ein jüdisches Leben angefreundet. „Vielleicht hat es wirklich so sein sollen“, sagt sie. „Nur manchmal fühle ich noch eine gewisse Schuld gegenüber meiner Abkehr von Christentum, auch wenn ich weiß, dass es schwachsinnig ist“, sagt Kate de la Murga. „Aber Weihnachten wird mir fehlen. Als Ende November die ersten Lichterketten funkelten, weinte das Kind in mir.“

Die Hälfte seiner Bewerber gibt auf

Genau deswegen dauere auch der Übertritt so lange, sagt Rabbi Rothschild, als er diese Anekdote hört. „Es ist wichtig, dass die jüdischen Lebensweisen in Fleisch und Blut übergehen und andere Traditionen ablösen. Es soll genügend Zeit gegeben werden, die Entscheidung mehrmals zu überdenken.“ Denn es gebe auch Kandidaten, die von ihrem Vorhaben zurücktreten. „Viele beginnen, aber bringen es nicht zu Ende. Bei mir schaffen es ungefähr fünf pro Jahr, von etwa doppelt so vielen.“ Aber das sei völlig in Ordnung. „Ein Konvertit mit nachträglichen Bedenken wäre ein bitteres Missgeschick für den Rabbi.“ Das Judentum lasse nämlich keinen Austritt zu. „Einmal Jude, immer Jude“, sagt Rabbi Rothschild. „Klar kannst du aufhören, wie ein Jude zu leben oder wiederum in einen anderen Glauben übertreten. Für uns bist du dann aber ganz einfach ein schlechter Jude.“

Kleiner Kreis. Rund 107 000 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde in Deutschland. Konvertiten gibt es nur etwa 100 im Jahr.
Kleiner Kreis. Rund 107 000 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde in Deutschland. Konvertiten gibt es nur etwa 100 im Jahr.

© Caro / Teich

Noch sind sich Kate und Juan de la Murga sicher. Wenn alles gut geht, werden sie am Ende ihrer Unterrichtszeit Ende dieses Jahres vor einem Beith Din, dem jüdischen Gericht, vorsprechen. Sollten sie die Prüfung bestehen, dürfen sie danach sofort ins Tauchbecken, die Mikwe, im Keller einer Synagoge. Und wenn sie dann aus dem geheiligten Wasser wieder auftauchen, können sie sich fortan Juden nennen. Spätestens dann sollten sie einen hebräischen Namen annehmen. „Ja, ja, ich weiß, so weit sind wir natürlich noch lange nicht“, gibt de la Murga zu, „aber ich wüsste schon, wie ich heißen würde: Aron.“

Am Ausgang schlüpft er wieder in seinen Wintermantel. Die schwarze Kippa gibt er ab. Einmal habe er sie nach Hause mitgenommen. „Ich habe mich aber etwas unwohl gefühlt. Ob es nun an Berlin lag oder daran, dass ich eigentlich noch kein waschechter Jude bin, kann ich nicht mehr sagen. Aber ich hoffe, dass ich eines Tages die Kippa überall tragen werden. Nicht schüchtern, sondern stolz.“

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

Franziska Knupper

Zur Startseite