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Gesellschaft: Einer für Alles

Einkaufen unter Palmen statt unter Neonröhren: Der Supermarkt wird durchgestylt. Doch war sein trister Charme nicht gerade das Reizvolle?

Neulich bei Kaiser’s. Schon am Eingang hat man das Gefühl, nicht in einem Supermarkt zu sein, sondern in einem neu ausgebauten Flughafen-Terminal. Der Boden ist spiegelblank, es gibt Tische und bequeme Stühle, an der Theke kann man sich Latte Macchiato holen. In einer Truhe liegen abgepacktes Sushi, Sandwiches und zehn verschiedene Salate to go, und die Einkaufswagen sehen neuerdings auch nicht mehr aus wie Legebatterien zum Rollen. Sie kommen als rote Trolleys daher, die man hinter sich herzieht wie Kabinengepäck.

Durch diesen neuen Kaiser’s in der Kreuzberger Bergmannstraße schlendern die Leute ganz so, als hätten sie eine Wartezeit zu überbrücken. Sie bleiben in der Weinabteilung stehen oder blättern in den Illustrierten am Zeitschriftenregal. Selbst die Kinder, die durch die Gänge hopsen, wirken weniger quengelig als gespannt-geschäftig. Man würde sich jedenfalls nicht wundern, wenn gleich eine säuselnde Lautsprecher-Stimme den Raum erfüllen würde: „Last Call für die Sonderangebote an der Käsetheke.“

So sieht sie also aus, die Zukunft des Supermarkts. Eine Zeit lang hatte man ja geglaubt, dass die Discounter das Ende einer Ära einläuten würden, dass der klassische Supermarkt am Eck Platz machen müsste für die Billigketten, in denen das Sortiment begrenzt ist und die Ware in Schachteln auf dem Boden steht. Inzwischen scheint es eher so, dass der Supermarkt von der fortschreitenden Flughafenterminalisierung des öffentlichen Raums erfasst wird. Wo vorher Kunstlicht und schmuddelige Melancholie herrschten, sind jetzt Glas, Architektur und Erlebnis angesagt, eine Entwicklung, die der Supermarkt mit Bahnhof, Tankstelle und Kino gemeinsam hat.

Beim Magazin „Lebensmittel Praxis“, das sich der deutschen Lebensmittelbranche widmet, kann man das bestätigen. Die Supermärkte würden verstärkt auf „dezent-edles Ambiente“ Wert legen, sagt Redakteurin Christina Steinheuer, auf viel Licht, gedeckte Farben und stylische Einrichtung. Jedes Jahr kürt das Magazin einen „Supermarkt des Jahres“. And the winner 2008 is: das „E-Center Angerbogen“ in Duisburg, wo es Palmen gibt, einen schwarzen Flügel und alle drei Wochen „Piano Shopping“.

Die 15-köpfige Jury, die dieses Jahr 160 Bewerber getestet hat, hat auch sonst einiges gesehen: Bäume, loungeartige Nischen, Kochabende und Grillseminare. Das gehetzte Supermarkt-Gefühl sei out, sagt Steinheuer. In dagegen: „eine neue Nüchternheit.“

Doch ist es nicht gerade dieses gehetzte Gefühl, diese sterile Tristesse unter Neonröhren, die den Supermarkt zu einem besonderen Ort macht? Zu einem Ort, an dem sich „das vertraute, aber unerkennbar gewordene Leben“ abspielt, wie es Wilhelm Genazino in seinem Roman „Die Kassiererinnen“ schreibt?

Im Supermarkt zeigt sich die Gesellschaft in ihrer gesamten Bandbreite, hyperrealistisch ausgeleuchtet vom Neonlicht. Schon auf dem Parkplatz treffen sie alle aufeinander, die Reichen in ihren dicken Autos und die immer gleichen Stadtstreicher und Alkoholiker, die vor dem Supermarkt ihren Stammplatz haben (und ihr Bier aus Loyalität im Supermarkt kaufen). Drinnen dann junge Leute, die Rotwein und Tiefkühl-Pizza im Wagen haben. Die Rentnerin, die nur zwei Dosen mit Erbsen und Linsen auf das Band legt, weil sie vermutlich niemanden hat, für den sie kochen kann. Die Kopfsalat-Diätmargarine-Mineralwasser-Frauen und die Feinkost-Paare. Und manchmal enden diese Begegnungen im Supermarkt vor Gericht: So wie bei der jungen Mutter, die an der Supermarkt-Kasse eine Frau auf ihr Knäckebrot ansprach. Ob das magenfreundlich sei, wollte die junge Mutter wissen, und während sich die Frau nach dem Knäckebrot umsah, griff der Komplize der jungen Mutter nach ihrer Geldbörse. Ein Ladendetektiv, der das Ganze beobachtet hatte, schnappte sich eine Bierflasche und ging dazwischen. In diesem Supermarkt herrschte jedenfalls noch nicht die neue Nüchternheit.

„In einer großen Fensterscheibe des Supermarkts komme ich mir selbst entgegen, wie ich bin“, beginnt ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann. Der Supermarkt ist eine der letzten großen Bühnen des menschlichen Daseins, selten ist ein Mensch ein so offenes Buch wie in der Zeit, in der er sein Leben im Einkaufswagen vor sich herschiebt. Schon die Gestaltung des Supermarkts gleicht einer Choreographie, die seit den 1930er Jahren nahezu unverändert geblieben ist, wie der amerikanische Supermarkt-Forscher Paco Underhill in seinem Buch „Why we Buy“ schreibt. Zuerst geht es an einer Bäckerei, der Obst-und-Gemüse-Abteilung oder einem Blumenstand vorbei, damit der Kunde sich frisch und gesund fühlt. Fleisch und Wurst sind hinten rechts, Milchprodukte hinten links, sodass man durch den ganzen Supermarkt laufen muss. À propos laufen: Weil der Mensch einen Rechtsdrall hat, werden die Kunden gegen den Uhrzeigersinn durch den Markt geleitet. Die Regale bremsen den Rechtsdrall, der Mensch muss seinen Weg korrigieren. Das lenkt seine Aufmerksamkeit auf die Regale. Und in Zukunft wohl auch auf Palmen und Klaviere.

Überleben wird der gute alte Supermarkt auf jeden Fall in der Kunst. Sie hat schon viele Orte vor dem Vergessen bewahrt, die traurige Leere der Tankstellen, wie bei Edward Hopper, den heruntergekommenen Charme der Bahnhofshallen, wie in unzähligen Filmen. Jetzt ist ein Supermarkt-Roman herausgekommen, „Kollateralschaden“ von der österreichischen Autorin Olga Flor, der es gleich auf die Longlist zum Deutschen Bücherpreis schaffte. Die „neonhelle Unterweltnacht eines Supermarkts“ ist nicht nur der Schauplatz, er gibt dem Roman auch seine Struktur. In den 60 Minuten Handlung begleiten wir Personen auf ihren Bahnen durch den Supermarkt. Eine Politikerin, eine essgestörte Frau, einen Rentner, eine Mutter mit quengelndem Kind, einen Jugendlichen. Olga Flor füllt dabei eine Leerstelle: Sie malt sich aus, was die Leute, die man täglich beim Einkaufen beobachtet, eigentlich machen.

Die eine hat eine Affäre, die andere verdient ihr Geld, indem sie putzen geht. Ein Autounfall ist passiert, ein Mann wurde entlassen, der Supermarkt-Stadtstreicher bekommt Hausverbot. Und alle wälzen Supermarkt-Gedanken: „Doris wandte sich wieder der Tür zu, die bereits viel zu lange offen stand, die Scheibe begann sich zu beschlagen (das ist wichtig, nur so kommen wir weiter, sagte der Mann hinter ihr eindringlich), und Doris erinnerte sich, dass sie fürs Wochenende hatte einkaufen wollen, so für alle Fälle, irgendeine nette, vorgekochte Sache, vegetarisch und nicht zu üppig, gut dosierbar und ohne Geschmacksverstärker (E-Nummern der 600er-Serie: schlecht für die Augen!), so was wie Marillenknödel vielleicht.“

Der Supermarkt als Unort habe sie gereizt, sagt Olga Flor. Dass man plötzlich in einem Zeitloch sei und im Nachhinein nicht mehr sagen könne, was man eigentlich getan hat. Sie hat für die Recherche viel Zeit in Supermärkten verbracht, „und wenn ich beim Schreiben nicht weitergekommen bin, war ich einkaufen“. Allerdings sei es nicht ihr Ding, anderen Leuten in den Wagen zu gucken. Dafür prallen im Roman die Leute plötzlich aufeinander, es kommt zum Tumult und eben einem Kollateralschaden.

Inspiriert, sagt Olga Flor, habe sie ein Foto von Andreas Gursky: Ein Supermarkt, in dem die Regale zu einem riesigen Feld aus Waren verschmelzen, in dem der Mensch zu verschwinden scheint. Dieses Foto, mit 1,7 Millionen Euro das teuerste der Gegenwart, erzählt davon, dass der Kapitalismus nirgendwo so sehr bei sich ist wie hier: Mensch wird mit Ware konfrontiert. Massenhaft und ohne großes Drumherum, das ist vielleicht nicht besonders ästhetisch, hat aber auch etwas angenehm Klares, Durchschaubares.

Und dass es angesichts der nackten Trivialität von Supermarkt-Regalen mindestens so romantisch zugehen kann wie beim Piano-Shopping, ist im Roman „Langer Samstag“ von Burkhard Spinnen nachzulesen. „Lofart ließ den Wagen an der Ecke des Mittelgangs stehen und ging langsam auf die Frau zu. Dann wandte er sich zu den Regalen, stützte die Hände in die Seiten und zog laut den Atem ein. ‚Komm, Inspiration', sagte er, dass die Frau ihn hören musste, ‚sag mir, was es heut Abend zu essen gibt!' Dann sah er zur Seite und lächelte. ‚Miracoli', sagte die Frau, ohne den Blick vom Regal zu nehmen.“

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