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Der Gurkenmythos: 40 Prozent der Schwangeren gelüstet es nach „etwas Süßem“, 17 Prozent mögen’s scharf gewürzt; Gurken sind unbedeutend.Foto: mauritius images

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Gesellschaft: Gurken-Zeit? Saure

Die Schwangerschaft als kulinarische Hölle: Carpaccio? Fleisch nur durchgebraten! Folsäurehaltiges? Gut fürs Gehirn! Lakritze? Macht Babys dumm! Ein Report aus dem neunten Monat

Ernährung ist immer ein Kampfthema: Wer was isst und wie viel dazu beiträgt, dass sich Deutschland abschafft beziehungsweise sein Gesundheitssystem. Ganz besonders schlimm ist das in der Schwangerschaft. Kaum hat einem der Arzt das erste Mal auf den Bauch gefasst, wird man bombardiert mit Ernährungstipps, Kochbüchern, Broschüren. Darauf meistens eine Schwangere, die ihren nackten Bauch mit einem Maßband umwickelt oder selig eine Schüssel Blattsalat anrührt. Und alle haben sie dieselbe Botschaft: Dein Kind ist, was du isst.

Ich weiß, wovon ich rede. Ich bin im neunten Monat.

Für zwei essen geht schon mal gar nicht. Würde man in der Schwangerschaft übermäßig reinhauen, sollte man sich lieber gleich mit dem Gedanken anfreunden, dass auch das Baby fett sein und sein Leben lang mit Gewichtsproblemen zu kämpfen haben wird. Das haben Experimente mit trächtigen Ratten ergeben, die amerikanische Wissenschaftler üppigst gefüttert haben. Die Jungen der überfressenen Tiere hatten viel zu viel Fett im Blut und blieben ihr Leben lang zu dick. In Deutschland wiegt jetzt schon jedes zehnte Neugeborene mehr als vier Kilo. Haben sollte es durchschnittlich 3500 Gramm.

Was auch nicht geht: Süßes. Glukose, also Zucker, ist der wichtigste Nährstoff für das Kind im Mutterleib, deshalb entwickelt die Mutter eine gewisse Resistenz gegen Insulin. Wer da noch übergewichtig ist und in der Schwangerschaft zuviel Süßkram isst, kann nicht nur selbst zuckerkrank werden, sondern die Neigung dazu auch weitergeben. Und das alles tue ich meinem Kind an, bevor ich ihm einen Namen wie Friedrich oder Cathy-Chantal gegeben habe!

Dann ist da noch der Schwangerschaftsdiabetes. Angeblich ein bisschen eine Modediagnose, so wie früher der erhöhte Cholesterinspiegel. Trotzdem wird man darauf zwischen der 24. und 27. Woche getestet, was schon schlimm genug ist. Nüchtern zum Arzt, dann einen Becher Wasser mit abartig viel Zucker hinunterwürgen. Blut abnehmen, zwei Stunden warten, noch mal Blut abnehmen. Am Ende steht dann bei jeder zehnten Frau die Diagnose: zu hohe Blutzuckerwerte. Das bedeutet: Nichts Süßes mehr, bis das Kind da ist. Kein Eis, keine Schokolade, kein Kuchen. Danach überlegte ich das erste Mal, ob das so eine gute Idee war mit dem Kinderkriegen.

Überhaupt sind die Verbote in der Schwangerschaft schlimmer als die Speisevorschriften einer fundamentalistischen Glaubensrichtung. Roher Fisch ist tabu, es könnten Krankheitskeime wie Listerien oder Toxoplasmen darin sein. Fleisch nur gut durchgebraten, was Dinge wie Carpaccio, Tartar, Hackepeter oder Mett ausschließt. Räucherfleisch wiederum kann Bakterien enthalten, die zu Atemstillstand führen, ein ungekochtes Ei Salmonellen. Über Alkohol und Nikotin muss man gar nicht erst reden, inzwischen stehen sogar Schwarztee und Kaffee auf dem Index.

Wobei das zum Glück überall anders gehandhabt wird. Während man als Schwangere in Amerika bereits den Rauch einer drei Meter entfernten Zigarette meiden muss wie ein Atommülldepot, bekam ich in Frankreich das eine oder andere Glas Alkohol angeboten. Keinen Wein allerdings. „Champagner ist das Getränk der Schwangeren“, sagte man mir.

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt, auf Rohmilch in jeder Form und auf die Rinde von Käse zu verzichten. Als Schwangere verrät man sich heutzutage nicht mehr dadurch, dass man plötzlich Gurken mit Schlagsahne isst. Sondern dass man bei einem Abendessen fragt: „Ist der Crottin de Chèvre hier mit Rohmilch?“

Dabei könnte die Schwangerschaft so schön sein. Man hat Hunger wie ein Bauarbeiter, und die hormonellen Schwankungen machen werdende Mütter experimentierfreudig wie einen Verfechter der Fusionsküche. Im Internetforum der Zeitschrift „Eltern“, in dem sich Schwangere über ihre Gelüste austauschen, finden sich etwa: Radieschen mit Marmeladenbrot, milde Peperoni und Apfelsinen, Weißbier zum Fisch. Linsensuppe wird mit sehr viel Apfelessig versetzt, auf Salamibrote kommt Löwensenf extrascharf. Angelina Jolie wurde in der Schwangerschaft angeblich mit Zwiebelringen in Senf und Schokolade ertappt.

Und da sind Frauen wie ich noch gar nicht mitgerechnet, die im Winter unbedingt Erdbeeren brauchen. Ein Schälchen Erdbeeren kostet um Weihnachten herum übrigens neun Euro, beim ersten Kind brauchte ich eine pro Tag. Dafür kann ich das Geld jetzt beim zweiten einsparen, denn es ekelt mich dermaßen vor Kaffeegeruch, dass ich um jede Gaststätte einen weiten Bogen machen muss.

Nur die berühmten sauren Gurken sind wohl ein Mythos. In einer amerikanischen Untersuchung wurden schwangere Frauen nach ihren Gelüsten befragt. 40 Prozent gaben „etwas Süßes“ an. Ein Drittel der werdenden Mütter wollte salzige Snacks, 17 Prozent scharf Gewürztes. Abgeschlagen mit zehn Prozent: Zitrusfrüchte, grüne Äpfel und saure Speisen. Die Gurken sind dabei eine zu vernachlässigende Größe. Einer niederländischen Studie zufolge essen gerade mal acht von 1000 Schwangeren mehr eingelegte Gurken als zuvor.

Und was soll man in der Schwangerschaft essen?

Gesundes, Gesundes, Gesundes, predigt einem die Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Obst, Gemüse, Fisch, mageres Fleisch, pflanzliche Fette. Dinge, die viel Folsäure enthalten, die benötigt der Embryo schon in den ersten Tagen zur Entwicklung des Rückenmarks und des Gehirns. Kartoffeln, Apfelsinen, Erdbeeren, Weintrauben, Blumenkohl, Erbsen, Spinat, Feldsalat. Eisen- und Kalziumhaltiges ist auch gut, Vollkornprodukte, Milch. Aber bloß nicht zuviel von alledem, denn als Schwangere benötigt man leider nur 250 Kalorien mehr am Tag, was einem mickrigen Schälchen Müsli entspricht.

Wobei Diäten natürlich streng verboten sind. Untergewichtige Säuglinge haben ebenfalls ein erhöhtes Risiko, zuckerkrank zu werden. Sagen jedenfalls die Forscher, die die Daten des niederländischen Hungerwinters 1944/45 ausgewertet haben. An den Kindern, die damals geboren wurden, wollen die Forscher ablesen, wie sich schwierige Schwangerschaften auf die Lebenserwartung des Nachwuchses auswirken. Wenn es nach Ernährungswissenschaftlern geht, kann jeder Bissen, den man in der Schwangerschaft zu sich nimmt, so folgenschwere Auswirkungen haben wie die Entscheidung, auf welche Schule man sein Kind schickt oder ob es Fernsehgucken darf. Der Geschmackssinn wird bereits im Mutterleib geprägt und zwar über das Fruchtwasser, das sich aus verschiedenen Aromen zusammensetzt, je nachdem, was man als Mutter gerade gegessen hat. In Ländern, in denen Schwangere viel Knoblauch essen, werden die Kinder deshalb ebenfalls Knoblauch mögen.

Meine werden vermutlich glauben, dass Süßigkeiten die Basis der Nahrungspyramide sind, so habe ich mich nämlich ernährt, jedenfalls bis zum Schwangerschaftsdiabetestest. Dann wurde ich depressiv, was übrigens auch auf die Kinder übergehen kann. Erforscht wird derzeit noch, ob sich der Lebensstil der Mutter beim Kind auch auf die Veranlagung zur Gewaltbereitschaft auswirken kann.

Den Frust mit einer Tüte Lakritzbonbons wegessen? Geht auch nicht: In Finnland will man herausgefunden haben, dass Kinder, deren Mütter während der Schwangerschaft besonders viel Lakritze gegessen hatten, weniger intelligent waren. Schuld daran soll das Glycyrrhizin aus der Süßholzwurzel sein. Der kann die Plazenta beeinträchtigen, wodurch Stresshormone der Mutter zum Embryo gelangen, was sich wiederum auf die Hirnentwicklung des Kindes auswirkt.

Nach der Schwangerschaft ist der Terror mit dem Essen übrigens nicht vorbei. Denn dann kommt die Stillzeit. Und über die Muttermilch formt sich erst recht der Geschmack. Was man als Mutter dann isst, kann Einfluss darauf haben, ob das Kind später gesunden Rosenkohl mag oder fette Hamburger. Ob es den differenzierten Geschmackssinn eines Spitzenkochs bekommt oder zur „Generation Vanille“ gehört: Weil inzwischen sehr vielen Lebensmitteln Vanille beigemischt wird, werden Kinder anscheinend regelrecht auf den Beigeschmack konditioniert.

Zumindest kurz nach der Geburt ist es besser. Da darf man nämlich ein Glas Sekt trinken, das wird von manchen Hebammen sogar empfohlen. Weil Sekt angeblich die Milchbildung anregt.

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