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Foto: Edward Westmacott/Fotolia

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Gesellschaft: Im Hummerland

Ein Hummer verliebt sich in einen Menschen? Ja! In Hamburg erzählen sie solche Geschichten. Hier ist Deutschlands Zentrum für Fisch und anderes Meeresgetier. Der große Hummer-Report zu den Festtagen.

Michael Finck schaltet die Neonröhren im Hummerkeller ein. Er steht vor elf blauen Hummerbecken, in denen sich die Tiere an den Ecken sammeln. Er greift ein Exemplar aus dem Salzwasserbecken, in das ein Schlauch Luft bläst. Der Hummer spreizt die Scheren, rudert in der Luft: „Daran erkennt man die guten Tiere, der Hummer macht seine Kampfgebärde.“ Finck kitzelt Bauch und Schwanz, der Hummer rollt die Schwanzflosse auf, „gutes Zeichen“, murmelt Finck. „Er ist quicklebendig.“

Michael Finck ist Verkaufsleiter im Hamburger Frische-Paradies, dem Gourmetsupermarkt an der Großen Elbstraße. Gegenüber liegen die Auktionshallen vom Altonaer Fischmarkt. Fincks Arbeitsplatz befindet sich im Zentrum des Fisch- und Hummergroßhandels.

Finck beobachtet, dass Cocktailsaucen oder Aioli nach wie vor beliebt zum Hummer sind. Doch er war Koch unter Ali Güngörmüs im Nobelrestaurant „Le Canard“ an der Elbchaussee. Deswegen ist er Purist. „Den Hummer esse ich pur, mit Salat, Baguette und einem Glas Chablis oder Riesling.“

Finck kochte auch für eine Millionärsfamilie auf einer Jacht. Der Hummer war gefragt. „Eine Courte Bouillon zum Kochen ist gut.“ Das ist eine Gemüsebrühe mit Gewürzen und Zutaten wie Weißwein oder Zitrone, in der die Hummer drei bis vier Minuten kochen. Finck hatte die beste Lehrerin: Sie, eine Koryphäe im Schlabberpulli, arbeitete bis vor kurzem hier im Keller: „Hummer-Bärbel“.

Sie erklärte Finck das Wesen des Hummers. Vor dem Kochtopf ließ sie die Tiere auf den Kacheln an Land dösig werden, damit das Töten nicht so brutal war, eine Geste des Respektes für ihre Lieblinge, die vor dem Kochen langsam einschlummerten.

Seit drei Monaten wird „Hummer-Bärbel“ vertreten, weil sie krank ist. Der besagte Hummerkochtopf steht einen Raum von den Bassins entfernt, getrennt durch eine Tür. An dieser Schwelle muss die Gefühle fahren lassen, wer den Job gut machen will.

Die Zukunft, glaubt Finck, gehöre dem „High Pressure Lobster“, ein Verfahren, bei dem der Hummer in Millisekunden in einer Kammer mit 1200 Bar Druck getötet, entdarmt und tiefgekühlt wird.

Ist es ethisch in Ordnung, dass wir den Hummer lebendig in den Kochtopf schmeißen, fragte David Foster Wallace in seinem blitzgescheiten Essay über das „Maine Lobster Festival“. Die Art und Weise, wie er die Hummerfressenden und ihre triefenden Münder beschreibt, wirkt wie eine Antwort. Fest steht, dass Hummer Schmerz empfinden können. Deswegen muss ein Hummer in Deutschland kopfüber ins kochende Wasser geworfen werden, andere Tötungsarten sind verboten. Angeblich sollen die Tiere leise aufschreien. Finck nennt es ein „Pfeifen“, das kein Todeslaut sei, sondern passiere, weil Luft aus dem Panzer entweiche.

Für Finck bedeutet der Hummer vor allem Arbeit. Auf dem Hummermarkt herrsche ein harter Preiskampf, erzählt er, große Gewinne seien nicht drin. Der Endverbraucher zahlt bei ihm je nach Größe 40 bis 50 Euro pro Hummer.

20 Tonnen verkauft Michael Finck im Jahr, meist lebend, vier im Dezember. Boomzeit im Hamburger Hummerland. Die kanadischen Hummer von der Atlantikküste kommen dienstags und donnerstags vom Flughafen Frankfurt an die Rampe. Sie landen im „Perishable Center“, Europas größtem Umschlagplatz mit 16 Kühlzonen. Nachts werden die Hummer im Lkw über die Autobahn zum Hamburger Fischmarkt gefahren.

Thorsten, Thorben und Steffen – Fincks Männer, bodenständige Mittdreißiger – stehen seit fünf an der Rampe, Warenannahme. Elbe und Containerterminal auf der anderen Elbseite ruhen. Einzig die Fischauktionshalle leuchtet. Rund 100 Leute arbeiten dort die ganze Nacht. Sie filetieren Fisch für die Einzelhändler, die um 2 Uhr 30 in den gekachelten Gängen auf Deutschlands größtem Fischmarkt einkaufen.

Das Raue, Ursprüngliche der Fischmarktwelt ist in den eisigen Morgenstunden zu spüren – die Novemberkälte ist durchdringend und die Elbe glatt wie ein Hamburger Aal, wenn der Hummer im Lkw herangefahren wird.

Thorsten, Thorben und Steffen schleppen die Hummerkisten aus dem Lkw in den Keller. Edelrestaurants und Luxushotels ordern lebende Hummer oder vorgekochtes Fleisch in 200-Gramm-Tütchen. Im Verpackungsraum sieht man die Bestellungen auf einem Flachbildschirm – gerade zum Beispiel die des Dorint Hotels im Ostseebad Wustrow. Die teure Ladung geht in Styroporkartons mit Luftecke auf Weiterreise.

Finck inspiziert einen Hummer, er hat eine bräunliche Farbe und einen bläulichen Schlund. In der Natur haben Hummer Tarnfarben, sie sind braun, grau, grün. Rot werden sie durch den Kochtopf, eine Reaktion des Eiweißes. Um die Hummer zu schützen, tragen sie Fesseln. „Hummer sind Kannibalen, sie würden sich anknabbern.“ In der Natur führt das zu merkwürdigen Szenen: Nach dem Sex muss sich das Hummerweibchen schnell vom Geliebten entfernen, um nicht verspeist zu werden. Doch Hummer haben auch eine emotionale Seite, sie können eine Beziehung zum Menschen aufbauen.

Wie das? Finck blickt versonnen in seine Hummerbecken: „Es gab da den schönen Leo“, sagt er. Ein aufgeweckter kanadischer Hummer, in den sich seine Pflegerin, die „Hummer-Bärbel“, Hals über Kopf verliebte. Warum, das weiß keiner mehr. Es geschah in den 80er Jahren, und seitdem ist Leo aus dem Nordwestatlantik der Starhummer vom Fischmarkt. Er lebte sechs Jahre an der Großen Elbstraße, genoss Sonderstatus im Einzelbecken und bekam als einziger Hummer Futter – die anderen wurden ja verkauft oder gekocht.

Niemand hätte gewagt, Leo in den Kochtopf zu schmeißen. Dafür begrüßte er sein Frauchen jeden Morgen mit kreiselnden Antennen und kam an den Rand seines Einzelbeckens gezischt. Wie ein Hund ließ er sich nach dem Spielen am Bauch kraulen.

Im sechsten Jahr überlebte Leo seine dritte Häutung nicht, mittlerweile liegt er in einem Garten in Bergedorf begraben. Für Hummer ist die Häutung kritisch. Ein Hummer mit Fanggröße hat sich bis dahin an die 20-mal gehäutet. In der Häutungszeit zieht er sich zurück in eine Höhle und knabbert die eigene Schale auf. Dem verletzlich nackten Tier wächst nach zwei Wochen ein neuer Panzer. Erst dann wagt er sich ins offene Meer.

Hummer können unter Wasser sogar singen. Allerdings nicht, um Weibchen zu locken, sondern um sich gegenseitig vor Feinden zu warnen. Ihre imposanten Greifscheren sind nicht gleichermaßen geschickt, es gibt Rechts- und Linkshänder, manche Exemplare haben eine stärkere rechte, andere eine stärkere linke Schere.

„Hummer-Bärbel“ erzählte Finck all das. Hinzu kamen die Tricks, die sie sich angeeignet hatte. „Bärbel kann man nicht ersetzen“, sagt Finck. Und vielleicht geht mit ihr langsam eine alte Welt im Hummerland am Fischmarkt unter – heute stehen an der Großen Elbstraße gläserne Sushi-Filialisten mit Elbblick neben dem Edelrestaurant eines Fernsehkochs.

Auch ein paar Schritte die Elbstraße runter, in Deutschlands wohl bekanntestem Fischrestaurant, in Rüdiger Kowalkes ehrwürdigem Fischereihafen-Restaurant, läuft das Geschäft mit dem Hummer ganzjährig prächtig. Die Leute wollen Hummer, rund 25 Stück am Tag. Vor der Tür steht ein Portier und in der Küche des Traditionsrestaurants kocht Michael Sauter Frikassee vom Hummer auf getrüffeltem Kartoffelmousse. Sauter ist im Stress. „Hummer nie zu doll kochen, nur ziehen lassen“, ruft er in der Küche. Den kanadischen Hummer serviert er mit warmer Zitronenbutter und Cocktailsauce, für 38 Euro. Angela Merkel bestellte lieber Hamburger Labskaus.

Die Ware bekommt Sauter am Fischmarkt. „Den Hummer kaufen wir bei ,Hummer Pedersen’“, sagt der Chefkoch. Der Hummergroßhändler und Nachbar vom Frische-Paradies hat jahrhundertealte Expertise in Sachen Hummer. Jeder Hummer wird dort täglich zwei Mal kontrolliert. Hummer Pedersen verkauft pro Morgenschicht 200 lebende Hummer. Außerdem Pulpo, Calamari, Krebse und Muscheln.

Finck pflegt ein kollegiales Verhältnis zu Pedersen und den Großmarktmännern. „Wir helfen uns bei Engpässen mit einer Kiste Fisch.“ Ohne Bezahlung, per Tausch. Doch die Frühaufsteher vom Fischmarkt eint eines: Die Männer haben keinen Appetit auf Fisch. Weihnachten, das steht bei Michael Finck aus dem Keller des Gourmetsupermarktes fest, gibt es warme Würstchen mit Kartoffelsalat. Im Januar ruft dann ja wieder die Frühschicht ins Hummerland.

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