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Zürcher Geschnetzeltes: Auf Streifen-Patrouille

Zürcher Geschnetzeltes ist ein Klassiker der Schweiz. Meist kommt es pampig und fad auf den Tisch. Doch unser kulinarischer Detektiv fasste sich ein Herz und aß sich vor Ort durch die Restaurants. Hier seine Tipps.

Zürich ist die teuerste Stadt der Welt – neulich stand’s in dieser Zeitung. Ich las den Artikel mit Interesse. Die Autorin empört sich, sie habe in einem Bistro für ein Zürcher Geschnetzeltes 36 Schweizer Franken (30 Euro) berappen müssen. Ein stolzer Preis. Wie das Essen gemundet hat, schreibt sie nicht. Auch ich hätte wahrscheinlich dem Geschmack des Schweizer Traditionsgerichts nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Vielleicht, weil ich in frühester Jugend durch elterlich verordnete Restaurantbesuche traumatisiert worden bin. Zürcher Geschnetzeltes stand für mich als Synonym für: fad, farblos, fett.

Kurz nach der Lektüre unterhielt ich mich mit einem befreundeten Gastronomen über die gepfefferten Preise in der Schweiz. Der Wirt sagte, sein Sohn studiere in Zürich, er habe ihn in diesem Jahr schon zweimal besucht – und dabei die Stadt wie auch das Geschnetzelte lieben gelernt. Ein Wochenende koste nicht die Welt, „man muss diese Köstlichkeit vor Ort probiert haben, sensationell!“

Solche Sätze wecken den Spürhund in mir. Welches Restaurant wäre in der Lage, mich von meiner geschnetzelten Störung zu befreien? Ich buchte einen Flug und steckte die Platinkarte ein.

Im Stadtplan sind Orte markiert, wo ich – nach intensiver Recherche – essen will. Fußmärsche sind nicht zu befürchten. Alle Adressen liegen in der Altstadt: links und rechts der Limmat, die dem Zürichsee entströmt.

Es ist früher Abend, der Sohn meines Wirtsfreundes hat Zeit. Wir treffen uns im „Dörfli“, dem verwinkelten Kneipenviertel Zürichs. Die Luft ist lau, Einheimische schaukeln Einkaufstaschen heim, fröhliche Touristen suchen den ersten Dämmerschoppen. Der Sohn rät zur Einkehr in die „Rheinfelder Bierhalle“. Dort würden sich die Feinschmecker unter seinen Kommilitonen ab und zu ein Essen leisten. Wir treten ein und verstummen. Der Lärmpegel gleicht dem des vollen Olympiastadions nach Herthas Siegtor in letzter Minute.

Die Schar der Gäste (bis zu 1000 pro Tag) setzt sich zusammen aus passionierten Alkoholikern – teils mit spektakulären Erdbeernasen, aus Politikern, Rechtsanwälten, Studenten, Bauarbeitern und Büromenschen. „In der Bierhalle“, versichert Wirt Giulio Fiore gern, „ist der Banker so willkommen wie der Clochard“. Gerade werden zwei Plätze frei. Wir setzen uns auf harte Holzstühle an einen blank gescheuerten Tisch. Zur Probe bestellen wir einmal „Geschnetzeltes mit Rösti“ zu 18 Franken (15 Euro). Die Portion macht uns beide satt und schmeckt recht ordentlich. Schulnote 2-3. Ein Schnäppchen! Der Haken daran: Das Fleisch stammt vom Schwein und nicht – wie es der Ehrenkodex fordert – vom Kalb. Darauf hingewiesen, meint Fiore achselzuckend, wenn wir echtes Zürcher Geschnetzeltes wollten, dann sollten wir eben in die „Kronenhalle“: „Sie werden staunen.“

In dem Zürcher Traditionslokal kostet das Gericht das Dreifache (55 Franken). Tags darauf treffe ich hier den Chefredakteur von „Marmite“, dem ältesten Gourmetmagazin der Schweiz. Ich hatte ihn um Unterstützung bei meiner Suche gebeten. Andrin C. Willi, 36, nimmt Platz im Chagallsaal. Der Raum ist holzvertäfelt und voller Originale des russischen Malers. Unseren blütenweiß gedeckten Tisch zieren Tafelsilber und eine kleine Vase mit rosaroter Rose. Ab und zu schiebt ein schwarzweiß gekleideter Kellner behutsam ein Rollwägelchen vorbei, auf dem sich ein Roastbeefmonster mit Rosmarinzweigen befindet. Der Labrador unterm Nebentisch leidet dabei wie ein Hund und seufzt so verhalten, wie es ihm in dieser gediegenen Atmosphäre nur möglich ist.

Ein Blick in die Speisekarte: Wieder kein echtes „Zürcher Geschnetzeltes“! Wir müssen uns mit „Kalbfleisch geschnetzelt, Kronenhalle“ begnügen. Der Chefredakteur kennt den Geschäftsführer. Andreas Wyss, 64, mit vollem, nach hinten gebürstetem, grau meliertem Haar, eilt herbei und klärt auf: „Es gibt kein allgemein gültiges Rezept für dieses relativ junge Gericht.“ Das „Zürcher Geschnetzelte“ sei in den 50er Jahren während eines gut besuchten Sportfestes geboren worden – und zwar in höchster Not. Damals soll das Kalbfleisch zur Neige gegangen sein, ein Versorgungsengpass drohte. Ein findiger Koch habe das Essen mit Champignons, Nieren und Bries gestreckt und kurzerhand zum Zürcher Geschnetzelten erklärt. Mehr sei nicht überliefert. „Manche Restaurants servieren es noch heute mit Nieren, wir nicht mehr.“ Eigentlich schade. Aber egal jetzt, der Kellner kommt und serviert aus Silberschalen: Kalbsfilet in feine Streifen geschnitten, begleitet von einer Sauce mit pürierten und passierten Champignons. Dazu die krosskrustigen, in einer gusseisernen Pfanne zubereiteten Rösti.

Ein Traum, der mich auf einen Schlag von meinem Trauma erlöst.

Nach dem Genuss werden unsere Schälchen samt verbliebenem Inhalt noch einmal auf Gas-Rechauds erwärmt und auf frischen Tellern angerichtet. Der Chefredakteur lehnt sich zurück und nimmt einen Schluck vom hiesigen weißen Räuschling: „Seit Jahren stabile Küche, unkomplizierter, netter Service. Ein Ausnahmebetrieb.“ 85 Prozent aller Zürcher Restaurants seien Abzockläden, die Geschnetzeltes schlampig zubereiten und „muffig-säuerliche Fertigrösti“ dazu servieren. Nach seinem Richterspruch schaut sich der Chefredakteur die Liste mit meinen weiteren Zielen an – und nickt sie ab: „Alle okay.“

Zunächst führt mich mein Weg ins Millionärsviertel Küsnacht an der Goldküste des Zürichsees. Dort, wo Tina Turner für ihre Unterkunft laut „Tagesanzeiger“ rund 25 000 Franken Monatsmiete bezahlen soll, bekomme ich mittags in der „Sonne“ das Geschnetzelte in Vollendung (mit Nieren!) für 30 Franken (25 Euro). Die Südwest-Terrasse des Restaurants liegt direkt am See und lässt den romantischsten Sonnenuntergang der Welt erahnen.

Im „Zunfthaus zur Waag“ in der Altstadt präsentiert Küchenchef Alain König das für ihn „optisch eher unschöne“ Gericht als kleines Kunstwerk (mit oder ohne Nieren). Er teilt die Rösti auf dem Teller und gibt in die Mitte sein Geschnetzeltes (behutsam gebräuntes Kalbfleisch plus in Butter geschwenkte Champignons) – in einer meisterlichen Sauce aus Kalbsfond, Weißwein, Schlagsahne, karamellisierten Zwiebeln, Lorbeer, Wacholderbeeren und Korianderkörnern. Veredelt wird mit halbierter Cocktailtomate, einem Rosmarinzweiglein, einer kleinen Sahnekugel und reduziertem Kalbsfond. Et voilà: Fertig ist das Gemälde (43 Franken/ 36 Euro), über dem schon Bill Clinton und Barbra Streisand entzückt die Hände zusammenschlugen.

Königs Rezept überzeugt mich, damit will ich künftig auch meine Gäste überraschen. Ich werde beim Metzger Kalbsfilet statt Kalbsoberschale ordern, Nierchen kommen auf jeden Fall dazu. Obwohl: Die ließen sich jetzt gerade durch frische Pfifferlinge ersetzen... Ja, Wahnsinn!

Im Leben eines Food-Scouts tun sich manchmal auch Täler auf. So etwa in Europas erstem vegetarischem Restaurant, dem „Hiltl“, das ich spontan aus reiner Neugier betrete. Hier versorgen 40 Köche täglich zwischen 2500 und 5000 Gäste – von 6.30 bis 24 Uhr. „Rezeptentwickler“ ist Pascal Haag. Haag versucht mit Tofu, Saitan und geheimen Rezepturen Fleisch zu imitieren. So findet sich neben „Tartar“ und „Cordon bleu“ auch „Züri Geschnetzeltes“ (32,50 Franken/ 27 Euro) auf der Speisekarte. Wie das schmeckt? Nach Karton an Champignons.

Bis zu meinem Rückflug sind es noch fünf Stunden. Ich studiere meinen Reiseführer. Die „Schipfe“ ist groß erwähnt, eines der ältesten Quartiere der Stadt – direkt an der Limmat. Vor einem gelben Restaurant mit blauen Fensterläden lese ich: „Tagesangebot: Zürcher Geschnetzeltes mit grünen Spargeln inkl. Vorspeise 27 Franken“ (22 Euro). Ich wittere Betrug. Pute statt Kalb, Convenience-Rösti? Also geselle ich mich zu den Gästen auf der gepflasterten Terrasse, bestelle und bin gespannt. Der Blick geht über die silbern schimmernde Limmat, am azurblauen Horizont erheben sich die Glarner Alpen.

Zunächst erwartet mich ein großer, bunter Gartensalat. Danach schwenkt die Bedienung mit einem tadellosen Geschnetzelten und einer handwerklich gefertigten Rösti an meinen Tisch. Lage, Service, Küche – eine saubere 2 +. Dazu dieser Preis. Wie das? Die „Schipfe 16“ ist ein Projekt der Stadt, das versucht, erwerbslose Sozialhilfeempfänger wieder ins berufliche Leben zu integrieren. Mein Geschnetzeltes samt Rösti hat Sami Berro, 41, zubereitet. Nach einer steilen Kokskarriere und sechs Monaten Knast steht der Libanese hier seit über einem Jahr am Herd. Inzwischen, sagt er, drehe er die Rösti wie ein Profi: in der Luft.

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