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Sue Tilley vor ihrem Akt „Benefits Supervisor Sleeping“, den Freud 1995 malte. Auktionspreis im Jahr 2008: 40 Millionen Euro.

© REUTERS

Aktmodell Sue Tilley: Bei Freud auf der Couch

Lucian Freud ist der bedeutendste britische Maler des 20. Jahrhunderts. Nun wird sein Werk in Wien gefeiert. Ein Hausbesuch bei einem besonderen Modell.

Die ganze Welt kennt ihre Brüste. Heerscharen von Kunstinteressierten haben ihr in den Bauchnabel geguckt. Selbst Museumsmuffeln ist ihr gewaltiger Körper vertraut – seit dem Auktionsrekord von 2008, als Christie’s Lucian Freuds Akt „Benefits Supervisor Sleeping“ für 33,6 Millionen Dollar versteigerte. Noch nie hatte das Werk eines lebenden Künstlers so viel eingebracht.

Fünf Jahre später, an einem sonnigen Morgen, öffnet das Aktmodell die Tür zu ihrem kleinen Apartment im Londoner East End. Bekleidet. Sue Tilley trägt ein weites schwarzes Gewand über der Hose, die wuscheligen dunklen Haare hat sie hochgesteckt, trägt glitzernde Ballerinas an den Füßen. Eine 56-Jährige ganz ohne Falten, die viel lacht.

Freud nahm nicht jeden. Mick Jaggers Exfrau Jerry Hall soll er rausgeschmissen haben. „Big Sue“ wollte er haben. Eine barocke, lebenslustige Frau, städtische Angestellte. Tilleys bester Freund hatte sie zusammengebracht, Leigh Bowery, eine schillernde Figur des Londoner Nachtlebens, Modedesigner und schwuler Dandy, der selber Freud-Modell war: Sein kahler Eierkopf, sein wuchtiger Körper sind auf etlichen Bildern zu sehen. „Leigh hatte beschlossen, dass ich Modell sitzen sollte.“ Und wenn Bowery etwas beschloss, war es Befehl. Da war er, so Tilley, dem Künstler ziemlich ähnlich.

Der Anfang war schrecklich: Stundenlang musste sie auf dem harten Boden des von Farbschichten überzogenen Londoner Ateliers liegen, „eine Tortur“. Zuerst dachte sie, das hält sie nicht durch, dann riss sie sich zusammen. Immerhin durfte sie sich an Kissen lehnen. „Die strotzten vor Dreck.“ Tilley hat’s gern aufgeräumt, so wie in ihrer Wohnung, wo wir auf einem kleinen Sofa mit einem Haufen Kissen und roter Decke sitzen, mit Blick auf Andy Warhol, einer ihrer Helden.

So hat sie sich, obwohl sie „nicht der Nudisten-Typ“ ist, vor dem Künstler nackt ausgebreitet und sich von ihm die Brüste zurechtruckeln lassen. Pragmatisch, hat sie sich gesagt, ein Arzt starrt einen ja auch nackt an. Allerdings nicht mit solcher Ausdauer wie Freud. Sigmunds Enkel, der als wichtigster britischer Maler des 20. Jahrhunderts gilt, war ein eigenwilliger moderner Künstler alter Schule: Er malte realistisch, nicht nach Fotovorlagen, sondern live und sehr genau. Neun Monate lang, drei Tage die Woche, fuhr Tilley nach Holland Park, den feinen Londoner Stadtteil. Das einzige Modell, für das Freud je sein altes Haus verließ, war die britische Königin.

Nein, bequem war das Leben als Freud-Modell nicht, aber so intensiv und anregend, dass es darüber einen ganzen Dokumentarfilm gibt. „Gruelling but delightful“, fasst ein Modell darin die Erfahrung zusammen. Auch Freuds eigene Kinder – die bei ihren Müttern aufwuchsen – ließen sich nackt malen von ihm. Bella, die Modedesignerin, Esther Freud und Rose Boyt, beide Schriftstellerinnen, haben erzählt, wie sie ihren Vater dabei erst richtig kennengelernt haben.

Es gab für Freud nichts Wichtigeres als die Kunst, dahinter musste alles andere, auch die Familie, zurückstecken. Bis zu seinem Tod vor zwei Jahren hat er Tag und Nacht gearbeitet, die Ausstellung, die diese Woche im Kunsthistorischen Museum in Wien eröffnet wurde (bis zum 6. Januar), hat er noch vorbereitet. Sie ist eine kleine Sensation: seine erste Ausstellung in der Stadt, aus der sein Großvater vertrieben wurde. Freud junior hatte sich von seinen deutsch-österreichischen Wurzeln radikal getrennt. 1922 in Berlin als Sohn des Architekten Ernst Freud und seiner Frau Lucie geboren, emigrierte Lucian mit der Familie 1933 nach London und hörte auf, Deutsch zu sprechen.

Auch Sue Tilley wird an der Wiener Museumswand hängen. Für ein Porträt kam sie immer abends nach der Arbeit, für ein anderes am Wochenende und an ihren freien Tagen. Mal döste sie oder ließ die Gedanken schweifen, oft unterhielten sie sich. So böse lästerte Freud über seinen Bruder Clement, dass sie sich nicht mehr einkriegten vor Lachen, dann wieder sprach er von seiner Mutter, die er in den letzten Jahren seines Lebens immer wieder malte. „Er war sehr traurig, als sie starb.“ Freud, der sich selbst fast allen Journalisten verweigerte, berichtete aus den fünf Zeitungen, die er täglich las, sie erzählte ihm kleine Geschichten vom Amt. Er war neugierig, brennend an Liebesgeschichten interessiert, weil er sich selber dauernd verliebte. Auch in Modelle. Für Tilley dagegen hatte die intime Situation nichts Erotisches, nie hätte sie sich verguckt in den Meister. „Ein Albtraum.“ Sie wusste zu gut, wie er mit Frauen umging.

Von der Psychoanalyse hielt Freud nichts. Dabei tat er im Grunde nichts anderes als sein Großvater, blickte den Menschen tief in die Seele, war der Wahrheit auf der Spur. Nur dass er seine Beobachtungen in Bilder statt Worte fasste. „Und er sah alles!“ Auch wenn Tilley mal ein Shampoo mit ganz leichter Tönung benutzt hatte. Da hat er geschimpft, jede Veränderung war strengstens verboten. Was auch sein Gutes hatte, wie sie kichernd erzählt: Endlich hatte sie mal eine Entschuldigung, keine Diät machen zu müssen. Und Freud hat seine Modelle immer gut gefüttert, sogar selbst bekocht.

Aber sie musste aufpassen, was sie sagte. Wenn sie den Hummer lobte, den er ihr servierte, kredenzte er ihn danach jeden Tag. Pur, ohne Brot. Freud, der so hager war wie Tilley opulent, lehnte Kohlehydrate ab, um fit zu bleiben. „Ich liiiebe Kohlehydrate,“ erklärt Tilley.

Trotzdem, sein Eigensinn gefiel ihr, seine Widersprüchlichkeit. Dass er so großzügig wie geizig sein konnte, sie in die teuersten Restaurants einlud und dann seine Freundin anrief, wenn Sue ging, sie solle schnell kommen, in Sues Parkuhr stecke noch Geld für eine Stunde.

Nach dem spektakulären Aktionsrekord ihres Aktes bekam Sue Tilley nicht nur unlautere Angebote von der Schmuddelpresse (die sie alle ablehnte), sondern wurde gern als Aschenbrödel porträtiert, das ein langweiliges Angestelltenleben lebte, bis der große Künstler sie in die Welt der Bohème einführte. Dabei war sie dort längst als Muse zu Hause. Sie gehörte zum Inventar des legendären polysexuellen Nachtclubs Taboo ihres Freundes Leigh Bowery. Ein Abend, an dem sie nicht umkippte, so Tilley, war ein schlechter Abend. Aber am Morgen stand sie wieder auf und ging zur Arbeit.

Die hatte sie sich selbst ausgesucht. Kunst auf Lehramt hatte sie studiert, aber sich zu Tode gelangweilt. „Customer service manager“ nennt sich ihr heutiger Posten als Abteilungsleiterin beim Arbeitsamt in einem ungemütlichen Teil des Londoner Nordens. Sie macht keine große Philosophie daraus, es ist ihr Job, er gefällt ihr, damit verdient sie ihr Geld. Vier Tage die Woche, damit genügend Zeit bleibt, um das Leben zu genießen, Freunde zu treffen, auf dem Bett Schundromane zu lesen, im Bus Gesprächen zu lauschen.

Freuds fleischiges Modell zu sein, hat sie berühmt, nicht reich gemacht. Auf mehreren Bildern hat er sie verewigt – eins davon, eine eher düstere Lithografie, hängt in ihrem Wohnzimmerchen. Nach der spektakulären Auktion wurde sie bestürmt, ob es sie nicht ärgere, gerade mal 20 Pfund am Tag für stundenlanges Stillliegen gekriegt zu haben (im Laufe von vier Jahren arbeitete sie sich auf 33 hoch). Sue Tilley zuckt mit den Schultern. Sie habe es doch nicht wegen des Geldes getan! „Freud war der amüsanteste Mensch, der mir je begegnet ist.“

Als Tilley Mitte der 90er Jahre für das berühmte Gemälde auf Freuds Couch lag, war Leigh Bowery gerade an Aids gestorben. Das ist es, was sie selbst vor allem in dem Porträt sieht: ihre große Traurigkeit. Ein paar Jahre danach hat sie ein Buch über den Freund geschrieben.

Nein, sie ist nicht der Typ, der irgendwas bereut. Das Leben scheint für sie wie eine große Wundertüte zu sein, aus dem immer mal wieder was rausfällt, womit sie überhaupt nicht gerechnet hat, worüber sie sich umso mehr freut. „Die Dinge, die mir passieren, sind so bizarr! Praktisch jede Woche widerfährt mir was. Wahrscheinlich weil ich es zulasse.“

Das Einzige, was die Frohnatur bedauert: kein Tagebuch geführt zu haben. „Dann hätte ich das Buch schreiben können, das Martin Gayford 2010 veröffentlichte“: „Mann mit blauem Schal“ (auf Deutsch im Piet Mayer Verlag). Ein spannender Bericht über die anderthalb Jahre, die der Kunstkritiker für zwei Porträts saß. Etwas eitel findet Tilley es. „Aber es hat viele Erinnerungen zurückgebracht.“

Freuds Porträt von Gayford ist eines der wenigen, auf dem der Dargestellte freundlich guckt. Der Künstler war erbarmungslos. Wer ihm Modell saß, musste nicht nur Zeit, Geduld und Stillhaltevermögen mitbringen, sondern auch eine satte Portion Mut und Uneitelkeit. Nicht schmeicheln wollte er mit seiner Malerei, sondern erstaunen, so hat er erklärt, „verstören, verführen“.

Wer weiß, was Sigmund Freud gesagt hätte, wenn Lucian sich bei ihm auf die Couch gelegt hätte. Jetzt ist der Enkel in die Berggasse 19, das berühmte Haus seines Großvaters in Wien, gezogen. Zeitgleich mit der großen Ausstellung im Kunsthistorischen Museum werden dort die eindringlichen Porträts gezeigt, die sein Assistent von Lucian Freud gemacht hat. Allerdings hat Freud es sich als Modell leichter gemacht: David Dawson hat ihn nicht gemalt, sondern fotografiert. Eine Sache von Sekunden.

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