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Der Gemeine Vampir.

© Illustration: Andree Volkmann

Berliner Schnauzen: Gemeiner Vampir (37)

Der Vampir trinkt Blut. Sonst nichts. Das macht ihn zum biologischen Unikum: Er ist das einzige Säugetier, das sich ausschließlich vom Blut anderer Säugetiere ernährt.

Beobachten lässt sich das täglich um elf Uhr im Zoo. Herr Grüßer, Tierpfleger im Nachttierhaus, betritt dann das Vampirgehege mit einem Viertelliter Rinder- oder Schweineblut aus der Bioschlächterei, frei von Antibiotika, die der zoologische Vampir so schlecht verträgt wie der literarische Vampir den Knoblauch.

Herr Grüßer füllt das Blut in schmale Trinkgefäße, sechs an der Zahl. Wenn er das Gehege verlassen hat, nähern sich die Vampire. Erst fliegend, dann mit froschartigen Sprüngen, schließlich krabbelnd, wie sie sich auch in freier Wildbahn an ihre meist schlafenden Opfer heranpirschen: Kühe, Ziegen, seltener auch Menschen, denen der Vampir mit den Vorderzähnen die Haut aufritzt. Das austretende Blut leckt er mit der Zunge auf, wobei ein gerinnungshemmender Stoff in seinem Speichel verhindert, dass sich die Wunde zu früh wieder schließt.

Herr Grüßer hat vor Jahren einmal versucht, den sechs Zoo-Vampiren eine selbst gebaute Holzkuh mit integrierten Blutgefäßen vorzusetzen, um Besuchern ein realitätsnäheres Bild von der Futterjagd zu vermitteln. Leider rührten die Vampire die Kuh nicht an. Stattdessen dürfen sie das Blut nun einfach aus Trinkschalen lecken, was sie gierig tun. Am Ende sind sie so prall abgefüllt, dass sie nicht mehr fliegen können. Krabbelnd kehren sie dann zurück in ihre Felsenverstecke, wobei sie kopfunter senkrechte Wände erklimmen, der Anblick prägt sich ein.

Der zoologische Vampir kommt aus Südamerika, der mythische Vampir aus Osteuropa. Begegnet sind sich beide erst spät, nämlich im 17. Jahrhundert, als europäische Forscher die blutsaugende Fledermaus in der Neuen Welt entdeckten und sie nach der blutsaugenden Sagengestalt der Alten Welt benannten. Das Tier verdankt also seinen Namen dem Fabelwesen, nicht umgekehrt.

Allerdings beeinflusste die naturwissenschaftliche Entdeckung in der Folge auch den Vampirmythos: Das Fabelwesen trat nun immer öfter in Fledermausgestalt auf, die es in den Sagen des Balkans nicht gehabt hatte. In Bram Stokers Genre-Klassiker von 1897 mutiert Dracula mehrfach zum geflügelten Nachttier, und wenn der transsylvanische Graf senkrecht abfallende Burgmauern entlangkrabbelt, erkennt man darin unschwer die Gangart der Vampirfledermaus, die Stoker an zwei Stellen des Buchs auch explizit erwähnt.

Der durchschlagende Erfolg von Stokers Roman blieb wiederum nicht ohne Folgen für die Naturwissenschaft. Als in den 1960er Jahren im Speichel des Vampirs jener gerinnungshemmende Stoff entdeckt wurde, der die Wunden seiner Opfer offen hält, gaben Forscher dem Sekret den Namen Draculin. Ähnliches geschah, als 1988 in Südamerika versteinerte Überreste einer ausgestorbenen Fledermausart entdeckt wurden, die offenbar eng verwandt mit dem Gemeinen Vampir (Desmodus rotundus), aber deutlich größer als dieser war: Sie erhielt die Artbezeichnung Desmodus draculae.

Der Vampir, könnte man sagen, wirft die Frage auf, wer im Verhältnis zwischen Leben und Literatur der Parasit ist. Nährt sich die Kunst vom Blut der Wirklichkeit – oder ist es umgekehrt?

GEMEINER VAMPIR IM ZOO

Lebenserwartung:  bis 30 Jahre

Fütterungszeiten:  täglich 11 Uhr

Interessanter Nachbar: Senegal-Bushbaby

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