zum Hauptinhalt
Kolumnist Hartmut Wewetzer

© Kai-Uwe Heinrich

Dr. WEWETZER: Lob des Ungewissen

Hartmut Wewetzer .

Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt ist gerade 95 geworden. Obwohl er ein starker Raucher ist. Raucher sterben eher als Nichtraucher, jedenfalls im Durchschnitt. Schmidt, dem sein Alter von Herzen gegönnt sei, verweist damit auf ein Thema der Medizin: Der Einzelne entkommt mitunter der Statistik. Das gilt wie im Falle Schmidts im positiven, aber leider auch im negativen Sinn. Mancher, der gesund lebt und nie rauchte, erkrankt an Lungenkrebs oder erleidet einen Herzinfarkt.

Schmidts robuste Gesundheit erscheint wie ein Schlag ins Gesicht der Gesundheitsapostel. Seine Person verkörpert den Sieg über den Risikofaktor. Zwar lassen sich heute viele Gefahren für die Gesundheit messen und abschätzen, wie Rauchen, hoher Blutdruck oder erhöhte Blutfette, Bewegungsmangel und Fettsucht. Aber stets lässt sich für ein Risiko nur eine allgemeine Wahrscheinlichkeit angeben. Hoher Blutdruck mag die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts um 30 Prozent erhöhen. Dieser Wert gilt für ein Kollektiv, aber die Situation im Einzelfall kann anders sein (siehe Schmidt). Für Frau B. ist hoher Blutdruck tödlich, Medikamente würden ihr Leben retten. Herrn K. dagegen kann der Bluthochdruck wenig anhaben, Arzneimittel wären wenig nützlich.

Wenn die Medizin besser zwischen Frau B. und Herrn K. unterscheiden könnte, wäre sie wirksamer, preiswerter und verträglicher. Einen Weg vom Kollektiv zum Einzelnen eröffnet der Blick ins Erbgut, das Genom. Bisher irrt die Wissenschaft oft im Genom wie in einem Labyrinth umher, ohne so recht aus ihm herauszufinden. Und wenn, dann sind es wieder Wahrscheinlichkeiten. Die Variante des Gens X erhöht das Infarktrisiko um fünf Prozent, die des Gens Y senkt es um zwei Prozent. Wie gewonnen, so zerronnen.

Was aber prägt Leben und Gesundheit jenseits der Statistik? Welche Kraft bestimmt, ob der Infarkt eintritt, oder, allgemeiner gesagt, was uns zustößt, was wir genießen, erleiden, erleben? Früher hätte man an dieser Stelle an das schöne deutsche Wort „Schicksal“ erinnert. Heute würde man eher von Zufällen sprechen, die unser Geschick bestimmen. „Lenken“ wäre zu viel gesagt. Schicksal, Zufall: Gemeint ist letztlich das Gleiche. Nämlich eine, um mit dem Romancier Hermann Broch zu sprechen, „unbekannte Größe“. Sie übersteigt unser Wissen, verbirgt ihr Gesicht hinter dem Nebel der Wahrscheinlichkeiten, um uns am Ende mit Fakten zu konfrontieren, guten wie schlechten.

Es hat etwas für sich, dass die Medizin diese „unbekannte Größe“ nicht ermitteln kann wie einen Laborwert. Dass die Zukunft prinzipiell undurchschaubar ist und bleibt, trotz aller sinnvollen und auch wichtigen Risikoabschätzungen. Eigentlich sind wir gar nicht so schlecht darin, mit Ungewissheit umzugehen.

Der Mensch zeichne sich, wie der Berliner Autor Stefan Klein in seinem Buch „Alles Zufall“ schreibt, „gegenüber allen anderen Geschöpfen durch seine besondere Fähigkeit aus, aus einer unsicheren Umgebung das Beste zu machen“. Grund zur Gelassenheit, auch im neuen Jahr.

Unser Kolumnist leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels. Haben Sie eine Frage zu seiner guten Nachricht?

Bitte an: sonntag@tagesspiegel.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false