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In einer Samstagnacht wurde unser Autor im Görlitzer Park in Kreuzberg überfallen.  

© Doris Spiekermann-Klaas

Gewalt im Görlitzer Park: Ohne jede Warnung

Der Berliner Schriftsteller Raul Zelik erlebt, wovor sich jeder fürchtet: Auf der Heimfahrt wird er plötzlich vom Rad getreten und brutal verprügelt. Der Überfall im Görlitzer Park verändert sein Leben. Aber die Angst ist nicht das Schlimmste.

Im Krankenhaus, am ersten Tag nach dem Überfall, rechne ich mit Angriffen von allen Seiten. Der neue Pfleger, der mir den Tropf anlegt, ohne sich vorzustellen, sieht verdächtig aus. Hat nicht schon einmal eine Pflegerin in der Charité mehrere Patienten zu Tode gespritzt? Als die Zimmertür ein Stück weit offen steht, greife ich nicht in den Spalt, weil ich fürchte, jemand könnte die Tür absichtlich von innen zuziehen. Nach dem Angriff auf den Körper ist das Frühwarnsystem aktiviert: Alle mir unbekannten Personen stellen eine Gefahr dar.

Umwelt als Feindesland.

Im Spätherbst, Wochenende, vielleicht 0.40 Uhr: Ich bin mit dem Fahrrad im Görlitzer Park unterwegs, auf dem Heimweg von der Oranienstraße Richtung Treptow. Wie oft am Samstag ist der Park noch ziemlich belebt. Vorn am Café Edelweiß stehen Kneipengäste, Marihuana-Kundschaft und -Verkäufer. An der großen Senke sitzen italienische Touristen auf einer Parkbank. Es ist etwas zu kalt für die Jahreszeit, ansonsten aber alles normal. Seit mehr als 20 Jahren fahre ich durch den Park, auch nachts.

Am großen Fußballplatz taucht plötzlich eine Gruppe junger Männer aus der Dunkelheit auf. Es sind nicht dieselben, die hier dealen. Ich kann nicht sagen, ob ich die Männer übersehen oder sie sich hinter Bäumen versteckt haben. Ich erinnere mich nur, dass einer zu grölen beginnt und ich nach links auf den Grünstreifen ausweiche. Betrunkene, denke ich, nervig, aber unvermeidlich. In diesem Moment trifft mich ohne jede Vorankündigung von links ein Schlag ins Gesicht. Ich spüre den Unterkiefer krachen, das Gefühl, als hätte man mir einen Zahn ausgeschlagen. Der Sturz verläuft einigermaßen kontrolliert, dann beginnen die Männer auf mich einzutreten. Es fühlt sich an, als wären sie zu siebt oder acht, vielleicht sind es aber auch nur fünf.

Der Angriff kommt so unvermittelt, dass ich im ersten Moment denke, die Männer wollten mich umbringen. Ich erinnere mich an Fälle, bei denen Menschen einfach aus Lust an der Gewalt totgetreten wurden. Vor diesem Hintergrund bin ich erleichtert, als die Angreifer von mir ablassen und nach meinem Handy zu suchen beginnen. Während ich Blut spucke, ziehen sie mir Telefon und Portemonnaie aus den Taschen. Mit der Zunge spüre ich, dass zwischen zwei Zähnen eine Lücke klafft. Um nicht noch mehr Testosteron bei den Angreifern freizusetzen, verhalte ich mich ruhig und blicke den Männern nicht ins Gesicht.

Die Zeugen helfen nicht

In einer Samstagnacht wurde unser Autor im Görlitzer Park in Kreuzberg überfallen.  
In einer Samstagnacht wurde unser Autor im Görlitzer Park in Kreuzberg überfallen.  

© Doris Spiekermann-Klaas

Nachdem sie mit ihrer Beute abgezogen sind – ein zehn Jahre altes Handy, 30 Euro –, folgt ein zweiter Schreckensmoment. „Hey, Digger, komm mal her“, sagt einer der Männer in einem unpassend kumpelhaften Ton. Ich denke: Sie wollen mich, nachdem die Beute spärlich ausgefallen ist, noch ein zweites Mal verprügeln. Doch der Mann legt mir bloß das Portemonnaie auf die Parkbank – ohne Geld, aber mit Ausweisen und Karten. Sind sie im Nachhinein erschrocken über die Brutalität ihres Angriffs oder ist das nur ein Teil ihres Spiels? Das Vergnügen der Katze an der Ohnmacht der Maus.

Das Gefühl des Ausgeliefertseins hält auch nach dem Angriff an. Die 50 Meter entfernt sitzenden Zeugen – die Touristen, zwei Dealer auf einer Parkbank – halten sich von mir fern. Vielleicht haben sie nicht verstanden, was passiert ist, vielleicht haben sie keine Papiere und Angst, in etwas hineingezogen zu werden; vielleicht sind sie auch einfach nur gleichgültig. Ich schleppe mich nach Hause, meine Frau ruft die Polizei, die erklärt, dass man nichts unternehmen kann. Im Görlitzer Park seien zu viele Personengruppen unterwegs, wie sollte man da ohne Täterbeschreibung vorgehen? Immerhin schickt man einen Krankenwagen. Im Klinikum Neukölln warte ich fünf Stunden in der Notaufnahme, bis eine Ärztin mich untersucht; weitere zwei Stunden, bis ich geröntgt bin. Es ist mir schleierhaft, warum sich eine Gesellschaft, die nicht weiß wohin mit ihren Privatvermögen, kein funktionierendes Gesundheitssystem leistet.

Schließlich werde ich mit Verdacht auf Jochbein- und Kieferbruch an die Charité, zum Campus Benjamin Franklin, überwiesen und erst einmal wieder nach Hause geschickt. Erst in Steglitz tut sich etwas: Der Arzt, der sich aufregt, dass ich seit elf Stunden unbehandelt bin, schickt mich sofort in den OP-Saal. Man trennt das Zahnfleisch vom Kiefer und setzt mir Titanplatten ein. Die ersten Tage nach dem Eingriff sehe ich aus wie Frankenstein, dann geht die Schwellung allmählich zurück. Nach vier Tagen werde ich entlassen, die Unterlippe wird wohl noch einige Monate teilweise taub sein.

Im Görlitzer Park überfallen zu werden, ist heute ein Politikum. Zwei Wochen nach meiner Entlassung erscheint in der „FAZ“ ein langer Artikel, in dem der Angriff auf mich als Beleg für den Verfall des Parks gewertet wird. Wie immer, wenn vom „Görli“ die Rede ist, geht es um Drogen und afrikanische Flüchtlinge. Die Autorin schreibt, die mit dem Drogenhandel einhergehende Gewalt werde systematisch ignoriert. Und auch im Bekanntenkreis wissen die meisten Bescheid: Im Drogenhotspot Görlitzer Park muss man mit so etwas rechnen.

Das Beunruhigendste am Überfall ist für mich nicht die Gewalt, sondern die Tatsache, dass ich unangekündigt angegriffen wurde. Wenn ich jederzeit damit rechnen muss, von anderen brutal attackiert zu werden, bleibt mir nichts als eine Verallgemeinerung der Angst. Dementsprechend ist mein Bedürfnis, die Gefahrenquelle einzugrenzen und ihr einen konkreten Ort zuzuweisen, groß. Doch hat das eine – die Gewalt – wirklich mit dem anderen – dem Drogenhandel – zu tun?

Nach vier Wochen betritt er wieder den Park

In einer Samstagnacht wurde unser Autor im Görlitzer Park in Kreuzberg überfallen.  
In einer Samstagnacht wurde unser Autor im Görlitzer Park in Kreuzberg überfallen.  

© Doris Spiekermann-Klaas

In den ersten Wochen traue ich mich nicht in den Park. So instabil wie die Statik der Gesichtsknochen ist auch die Psyche; erst allmählich festigt sich dank der eingeschraubten Titanplatten auch wieder die Selbstwahrnehmung. Doch meine Frau geht mögliche Zeugen suchen und befragt die meist afrikanischen Männer, die auf den Parkbänken herumsitzen. Den Überfall hat keiner von ihnen gesehen, aber ihre Antworten sind trotzdem erhellend. Sie hätten nachts auch Angst, sagt einer, es gebe Leute, die würden sie zusammenschlagen und ausrauben.

Junge Männer aus Berlin.

Nach vier Wochen, ich kann immer noch nicht wieder kauen, betrete ich zum ersten Mal wieder den Park. Es ist frühlingshaft, sonnig, in diesem Fall für die Jahreszeit zu warm. Der „Görli“ stresst mich sofort; allerdings nicht wegen der Erinnerungen. Mich stören die Menschenansammlungen, Bauzäune, Müllberge, Touristengruppen, freilaufenden Hunde. Trotz des allgemeinen Herumhängens strahlt der Park etwas Nervöses aus. Zufällig treffe ich eine Freundin und berichte, was mir passiert ist.

Meine Geschichte habe ich mittlerweile sicher 50 Mal erzählt, und mit jedem Mal fühle ich mich etwas sicherer. Abstand durch Annäherung. Irgendwann stelle ich dann die Vermutung an, der Drogenhandel verursache die Gewalt zwar nicht, die Dealer hatten mit dem Überfall schließlich nichts zu tun gehabt; doch er ziehe sie zumindest an. Dort, wo illegale Geschäfte abgewickelt würden, gebe es auch Gruppen, die mit Gewalt abkassieren wollten. Doch die Freundin hat einen entwaffnend einfachen Einwand: Ob ich mich nicht daran erinnern würde, dass es vor 20 Jahren im damals noch recht leeren Görlitzer Park auch regelmäßig zu Überfällen und Vergewaltigungen kam – ohne Drogenhandel? Und eine weitere Freundin, die sich dazugesellt hat, fügt hinzu, dass sie nachts nur dort durch den Park fährt, wo besonders viele Dealer stehen. Weil diese auch ein Schutz sein könnten.

Mein Versuch, die Angst örtlich einzuhegen, scheitert. Das Problem ist diffuser und beunruhigender: Es hätte mich überall treffen können. Auf dem Alex, vor einer Disco, nach einem Fußballspiel auf der Straße, selbst im schicken München-Solln. Erstaunlich viele Bekannte erzählen, dass sie schon einmal zusammengeschlagen wurden. Offensichtlich gibt es zu viele Männer, die auf Gewalt und Erniedrigung anderer stehen.

Trotzdem habe ich das Gefühl, mit der Situation umgehen zu können. Die letzten Jahre habe ich in Medellín gelebt, einer Stadt, der der Ruf als „gewalttätigste Metropole“ der Welt anhängt. Dort trainiert man sich an, die Umgebung ständig nach Angreifern abzusuchen. Sobald Unbekannte auftauchen, wechselt man Straßenseite, Tempo, Richtung. Das Ergebnis ist allgemeines Misstrauen. Normale menschliche Beziehungen werden blockiert, die Stadt als sozialer Ort zerstört.

Dieser permanente Alarmzustand, den ich aus Kolumbien kenne, begleitet mich nun auch in Berlin. Ich überlege, welche Route ich fahre, welchen Menschenansammlungen ich nicht begegnen möchte, auf welchen Straßen es zu leer sein könnte. Der Schrecken hält sich in Grenzen, aber die Freude an der Stadt ist weg.

Das Schlimmste an der Gewalt ist, dass sie das Soziale zerstört.

Der Autor ist Schriftsteller in Berlin und Professor für Politikwissenschaften in Medellín, Kolumbien. Zuletzt erschien sein Roman „Der Eindringling“ (Suhrkamp).

Raul Zelik

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