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SommerLEKTÜRE: Metamorphose Manhattans

Das Herz der Stadt ist eine Insel und gleichzeitig das Gegenteil von Natur: Manhattan.

Die Sommerhitze treibt einen entweder in klimatisierte Gebäude oder raus, unter die Bäume auf Govenors Island. Auf dem Weg zur Hafenbucht steht man ab und an ratlos an einer Kreuzung, die Karte in der Hand, und fragt sich, wo nun Norden und Süden ist. Das oft gescholtene Schachbrettmuster der Straßen bietet wenig Orientierung.

Auf Govenors Island ahnt man, wie Manhattan vor 200 Jahren aussah. Nicht wild, die Insel war schon lange besiedelt, aber grün und hügelig. Die Stadt reichte gerade bis zur North Street (heute: Houston), jenseits davon erstreckten sich Äcker und Sümpfe, unterbrochen von uralten Felsen und Dörfern wie Harlem.

Doch New York wuchs rasant. Allein zwischen 1790 und 1800 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf 60 000, bis 1865 waren es eine Million. Schweine streunten durch chaotische Gassen, es türmte sich der Müll, Kanäle und Seen stanken. Cholera, Typhus und Tuberkulose töteten Tausende. Allzu oft brach Feuer aus. „Wir haben derart unter Seuchen gelitten, wir haben das Übel verworrener Straßen so sehr gespürt, dass wir die engen Passagen erweitern wollen. Das ist dem Auge gefällig und die Stadt wird belüftet“, schrieben New Yorker Bürger an ihre Verwaltung.

Sie liefen offene Türen ein. Auch die von der Aufklärung beseelten Ratsherren waren für mehr Ordnung. Ungezähmte Landschaften bringen den Intellekt aus dem Gleichgewicht, meinten sie. Gerade Linien und rechte Winkel dagegen förderten Rationalität. 1808 beauftragten sie John Randel jr., die Insel endlich exakt zu vermessen. 1811 stellten sie die Pläne für ein Schachbrettmuster aus Streets und Avenues vor, das New York fortan prägte. Wieder war es Randel, der die Linien in die Landschaft gravierte.

Er wurde damit weder berühmt noch machte er sich Freunde. Seine Geschichte war vergessen, bis sie die New Yorker Journalistin Marguerite Holloway wiederentdeckte. Ihr Buch „The Measure of Manhattan“ (2013 erschienen bei Norton, englisch) ist ein Mix aus Wissenschaftsreportage, Ideengeschichte und Archivsplittern. Holloway faszinierten die Exaktheit der alten Karten und die unzähligen Notizbücher, die sie bei der New York Historical Society auswertete.

Zwischen all den Zahlen und Zeichnungen, die Randels Erfindungsreichtum belegen, fand sie persönliche Einträge, die Perfektionismus und Unnachgiebigkeit aufscheinen lassen. Reine Landvermessung war ihm zu schnöde, Randel wollte auch die Struktur der Erdoberfläche erfassen. Wenn ihm die Instrumente seiner Zeit nicht reichten, entwarf er neue. Er trotzte nicht nur Stürmen und Regen, sondern auch Bauern, die ihn aus Angst um ihren Besitz vom Hof jagten, verklagten und seine Markierungen ausbuddelten. Manche kann man trotzdem heute noch finden, mitten im Central Park, wo geplante Kreuzungen nie gebaut wurden. Sie sind wie ein Echo der alten Stadt und ihres Ehrgeizes, zur Metropole zu werden.

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