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Design: Die Häuser-Sammlerin

Jeanette Winterson war ein ungeliebtes Kind, ein richtiges Zuhause hatte die Schriftstellerin nie. Das erklärt ihre Obsession. Eine Homestory in London.

Ein Eckhaus an der Fournier Street in Spitalfields, Londoner East End. Ist es das richtige? Die braunen Backsteinhäuser sehen ziemlich gleich aus. Aus der ersten Etage schnellt ein Wuschelkopf hervor, ein freches Gesicht, ein angedeutetes Lachen. Die Frau, zu der dieses Gesicht gehört, lehnt sich hinaus. „Das ist das richtige“, ruft sie, als könnte sie Gedanken lesen. So beginnt ein langer Nachmittag mit der Schriftstellerin Jeanette Winterson, in deren Verlauf sie bekennt: „Ja, ich hätte mir vorstellen können, Maklerin zu werden.“

Immobilienmakler? Das ist in der eigenen Vorstellung so weit entfernt von einer preisgekrönten Autorin („Orangen sind nicht die einzige Frucht“) wie der Himalaya von der Müritz. „Pathologisch“, nennt die 53-Jährige ihr Interesse an Häusern, da ist sie schon in der Küche im ersten Stock, schaltet den tragbaren Induktionsherd an und wärmt Milch für den Cappuccino auf. Sie erzählt von den Häusern, die sie in ihrem Leben gekauft, restauriert und verkauft hat. Sie lacht, so ein ansteckendes Glucksen, dass man sofort verführt ist, in diesem viergeschössigen Haus, gebaut 1720, mitanzupacken. Eine Küche fehlt ja noch. „Nein, nein, ich bin fertig mit dem Haus. Jetzt kann ich es gehen lassen.“

Jeanette Winterson entlässt Häuser, manchmal auch Menschen, mit einer Radikalität, die man besser versteht, wenn man ihren Lebensweg kennt. Sie wurde 1959 in Manchester geboren, das ungewollte Kind einer 17-jährigen Maschinistin. Ein streng evangelisches Paar adoptierte Jeanette, viel zu lachen hatte sie in der Water Street nicht. „Ich habe nie geglaubt, dass meine Eltern mich geliebt haben. Ich habe versucht, sie zu lieben, aber es ging nicht.“

So steht es in ihren Memoiren „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ (Hanser Verlag Berlin), die gerade auf Deutsch erschienen sind. Darin finden sich anrührende wie erschreckende Episoden. Die Adoptivmutter, die das Kind nachts aussperrt, wenn es ungehörig war – so lange, bis der Vater von der Nachtschicht aus dem Kraftwerk heimkommt und es wieder hineinlässt. Im Garten verbrennt die Mutter Taschenbücher der Tochter, sie hat D.H. Lawrence, den Skandalautoren, unter der Matratze gefunden. Ein schlechter Einfluss in ihrem Haus, also müssen alle Bücher daran glauben. Dann entdeckt Jeanette, dass sie lesbisch ist – und nicht bereit, das zu verstecken. Ein Albtraum für die strengen Christen.

So rennt das Mädchen weg aus diesem Haus, als es 16 ist. Es lebt zunächst in einem Auto, dann bei einer Lehrerin, macht den Schulabschluss, studiert in Oxford, geht nach London und kauft mit 24 Jahren seine erste Wohnung. In Kentish Town, nördlich von King’s Cross. „Ziemlich grottig, ganz klein, ein Bett und ein Regal passten hinein, aber es war meins.“ Zum ersten Mal hat sie ein Zuhause, Kaufpreis 20 000 Pfund, selbst angespart davon waren 5000. Sie hatte Artikel für Zeitschriften verfasst („Mein Pluspunkt: Ich konnte schnell schreiben.“) und nachts als Barkeeperin in Chelsea gearbeitet.

Ein Wimmern wandert durch das Haus in Spitalfields. Eine Katze auf der Kiefernholztreppe? „Habe ich zuerst auch gedacht. Es sind meine Nachbarn, die Löcher in die Wand bohren. Sie bauen ein Badezimmer ein.“ Jeanette Winterson sitzt auf einem Holzstuhl aus dem 19. Jahrhundert, neben ihr ein Abstelltisch, hinter sich die beiden Eckfenster, die in die Fournier und die Wilkes Street hinausgehen. Wie ein treuer Hund liegt vor ihr das einzige Einrichtungsstück, das sie seit ihrem 15. Lebensjahr begleitet: ein alter kleiner Teppich, gemustert wie aus dem Orient und gekauft auf einem Flohmarkt in Nordengland. „Für mich sah er wie ein fliegender Teppich aus, mit dem ich mich wegträumen konnte. Diese Vorstellung von Flucht war sehr verführerisch für mich.“ Wenn sie sich irgendwo zu Hause fühlt, legt sie den rot-blau-weiß gewebten Teppich hinein, wie einen Beweis: Ja, ich bin angekommen.

Mehr Sentimentalität gestattet sie sich nicht. „Ich bin wie ein Beduine“, sagt sie. „Meine Vorstellung von Zuhause ist nicht an einen festen Ort gekoppelt, sondern an die wenigen Besitztümer, die ich habe.“ An jenen Teppich, die vielen Bücher, draußen in ihrem Landhaus in den Cotswolds, die aufklappbaren Stühle hier neben dem Kamin – alle antiquarisch, mit Leder oder dickem Stoff bespannt. Stühle, auf denen früher Generäle auf Feldzügen saßen.

Sie sagt: „Ich fühle mich hier wohl.“ Aber auch: „Es tut nicht weh, das Haus aufzugeben.“ Sie hat nach der Wohnung in Kentish Town andere in London gehabt, in Hampstead Heath, hier in Spitalfields, hat diese gefunden, hergerichtet und verlassen. Wie adoptierte Kinder seien ihr die Häuser gewesen, die sie aufgepäppelt hat. Sie glaubt, ein Gespür dafür zu haben, wann eine Gegend attraktiv wird, ob ein Haus einen eigenen Charakter ausstrahle. Deshalb hätte sie mal mit dem Gedanken geliebäugelt, Maklerin zu werden. „Ich wäre gut darin gewesen.“ Zum Glück wurden ihre Bücher so erfolgreich, dass sie beim Schreiben blieb.

Warum unbedingt kaufen und nicht mieten? Die Rechte für Mieter in Großbritannien kann man nicht mit denen in Deutschland vergleichen. Praktisch von einem auf den anderen Monat können Mieter bei Eigenbedarf aus einer Wohnung fliegen, selbst wenn sie jahrelang pünktlich das Geld überwiesen haben. „Ich wollte nie einen Vermieter haben, der die Gewalt über meine Wohnungsschlüssel hat“, sagt Jeanette Winterson. Für das elterliche Haus in der Water Street bekam sie nie die Schlüssel, dafür vertrauten ihr die Wintersons zu wenig.

Auf dem Land hat sie fünf Gehöfte renoviert und gab vier wieder ab, in dem einen in den Cotswolds lebt sie seit 20 Jahren. Zusammengebaute Landarbeiterhäuser, drum herum Wald und viel Platz für ihren Gemüsegarten. „Das Gefühl, in die Küche zu gehen und mir mein Abendessen auszusuchen, brauche ich.“ Kartoffeln, Rosenkohl, Möhren, Salat baut sie an, im Stall züchtet sie Hühner und schlachtet sie. „Nachts, wenn sie schlafen und wie unter Drogen stehen. Ihre Hälse sind schlaff, ein Ruck – und alles ist vorüber.“ Wirklich nie möchte sie die Tiere am Tag umbringen, wenn diese alles mitbekämen, aufgeregt gackerten, und das Blut überall herumspritzte.

In London stehen nur ein paar Gewürze wie Dekoration auf einem weiß gestrichenen Regal, es gibt einen Kühlschrank und die Induktionsplatte. „Ich bin ein Landei“, sagt sie. Da sie viele Termine in der Stadt hat, ihre Freundin hier lebt und arbeitet, braucht sie eine Wohnung – denn mit ihr zusammenzuziehen, nein, nein, da winkt Winterson ab, als wolle man ihr eine alte Waschmaschine unterjubeln. In qualvollen Beziehungen hat sie verstanden, dass es manchmal besser ist, eigenen Raum zu haben. „Sie ist Psycho-Analytikerin, arbeitet von morgens bis abends und fällt dann ins Bett. Ich schreibe den ganzen Tag und brauche meine Ruhe.“ Am Wochenende treffen sie sich, im Landhaus oder in London.

Plötzlich hupt es von der Straße her. Ein LKW fährt rückwärts in die Seitengasse. Die Hausbesitzerin springt auf, lehnt sich auf das Fensterbrett, drückt sich die Nase an der Scheibe platt und murmelt: „Aha, die Müllabfuhr.“ Sie erzählt, dass schon ein paar Mal Wagen an die Hauswand gekracht seien. Für die Versicherung muss sie die Nummernschilder notieren. Sie starrt so lange hinaus, bis der Wagen sich ratternd und keuchend entfernt. Nichts passiert.

„Gehen Sie ruhig durchs Haus“, empfiehlt sie, nun sichtlich gelöst. Mitgehen muss sie nicht. Es steht sowieso kaum ein Möbelstück in zwei Etagen, helle Räume mit Kieferndielen, ganz oben ein Zimmer mit breiten Fenstern, darin ein Schreibtisch und ein alter Teppich. „In dieser Straße waren die Häuser der Seidenfabrikanten“, ruft sie hoch. „Hugenotten, die aus Frankreich geflohen waren. Die Dachböden waren damals so hoch, damit die riesigen Webstühle hineinpassten, und die Fenster so groß, damit die Weber so viel Licht wie möglich bekamen.“

Das East End, diese lange vergessene Gegend Londons, hat es ihr seit den frühen 90er Jahren angetan. „Juden, Kriminelle, Verfolgte lebten früher hier, es war das Land der Gesetzlosen, nur ein paar Schritte von der City entfernt.“ Am Wochenende ging sie in den Pub „Ten Balls“ – eine Kneipe gegenüber dem Spitalfields Market, dem Obst- und Gemüsemarkt. Die ganze Nacht arbeiteten da Menschen, daher gab es ein Gesetz, dass die Kneipe länger als anderswo öffnen durfte. „In den 90er Jahren mischten sich am Tresen Arbeiter mit Gangstern, Prostituierten und piekfeinen Herren aus Chelsea, die nach elf Uhr weitertrinken wollten.“ Wenn Jeanette etwas aufgedonnert aus dem Pub kam, riefen ihr Männer zu: „Bist du im Dienst?“ – „Nein.“ – „Sorry, Love.“ Und jeder ging seines Weges.

Leben wollte damals niemand im East End. Die Häuser verfielen, die Preise purzelten. Für 98 000 Pfund kaufte Winterson 1994 ein viergeschössiges Haus von 1790 neben dem Spitalfields Market. Ihre Freunde waren entsetzt. „Warum? Eine Gegend in Fußnähe der City, wie lange sollte es dauern, bis die Menschen sie wieder entdecken würden?“ Und sie taten es. Zuerst kamen die Künstler. Gilbert & George zogen hierher, ihnen folgten die Banker, wohlhabende Kleinfamilien und Exil-Briten aus Hongkong, die sich jüngst einen Neubau ins East End gesetzt haben.

Zwei Jahre renovierte die Schriftstellerin das Haus, steckte ihr Geld in den Umbau – neue Fundamente, Dielen und Wände, bis die Bezirksverwaltung das Schild „Nicht zum Wohnen geeignet“ abschraubte. Für das Erdgeschoß entschied sie sich gegen das lukrative Angebot einer Kaffeehauskette und setzte ein Delikatessengeschäft hinein. Das „Verde“ bietet frisch zubereitete Sandwiches an, italienischen Kaffee, golden schimmernde Orangenmarmelade und feine Schokolade von Pierre Marcolini.

Jeanette Winterson lebte in den oberen Etagen, bis sie vor drei Jahren das Haus an der Fournier Street fand, zwei Gehminuten entfernt. Sie ließ eine Kiefernholztreppe einbauen, den alten Kamin herrichten und wählte die Farben mit einer Freundin aus. „Perlgrau“ sind die Wände im Kaminzimmer gestrichen, eine rote Lampe mit orangefarbenem Fuß ist der einzige Farbklecks – entworfen von jener Freundin, die fand, ein wenig Aufmunterung hätte der Raum schon verdient.

Eine siebenstellige Summe ist das Haus mindestens wert. An den Höchstbietenden will die Autorin nicht verkaufen, die neuen Besitzer müssen nach Spitalfields passen. „Am besten Künstler, Architekten oder Fotografen. Keine Russen, die es nur als Parkplatz für ihr Geld betrachten und sich nicht darum kümmern.“ Ihre Häuser in ein anderes Leben zu lassen, dafür trägt sie die Verantwortung – und die nimmt sie ernst.

Sie wird dann zurückziehen über das „Verde“, das befreundete Pärchen dort ausziehen und Jeanette Winterson den alten Teppich wieder ausrollen. Neue Häuser in London sucht sie nicht, „dafür sind die Preise nun zu hoch“. Sie schmunzelt. „Dafür habe ich von einem kleinen Apartment in Paris gehört, in der Nähe von Notre Dame.“ Mehr sagt sie nicht, auf keinen Fall soll jemand von dieser Wohnung vor ihr Wind bekommen. „Das ist mein Erbe, das ich dieser Welt hinterlasse. Die Häuser, die ich hergerichtet habe, werden mich überdauern, wenn niemand mehr meine Bücher liest.“

Die ehemals Heimatlose, die Obdach schafft – eine schöne Lebensaufgabe hat sich Jeanette Winterson ausgewählt.

Aus dem Buch liest Jeanette Winterson am 11. April um 20 Uhr in den Räumen des Hanser Verlags (Friedrichstr. 210).

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