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Project Shellter: Immobilienkrise der Einsiedlerkrebse

Zu wenig freie Häuser, zu viele Interessenten: In den USA spitzt sich die Wohnungsnot unter Einsiedlerkrebsen zu.  Hobbybastler und Designer wollen helfen.

Aus einiger Entfernung sieht es nicht wie ein Erstbezug aus, eher wie ein Todeskampf. Ein rotes Etwas krabbelt über Terrariensand, krallt sich an einer Plastikkugel fest, krümmt sich, fällt auf den Rücken, rappelt sich wieder auf, rutscht weg, fällt erneut. Sechs Minuten, 20 Sekunden geht das so. Dann trappelt die Kugel davon, unten gucken kleine Beine raus.

Die Szene hat Miles Lightwood auf Video festgehalten, er notierte sich auch, wann sie geschah: 7. Dezember 2011, 16.23 Uhr Ortszeit Los Angeles. Seitdem ist vieles anders. Seitdem glaubt Miles Lightwood wieder an sein Projekt.

Dem Tier im Terrarium hat er den Namen „Kendall“ gegeben, einen alten englischen, geeignet für Frauen wie Männer. Sogar Biologen fällt es schwer, das Geschlecht von Einsiedlerkrebsen zu bestimmen. Miles Lightwood versucht es erst gar nicht. Er ist 47 und arbeitet als Software-Techniker bei Walt Disney. Er ist nicht übermäßig tierlieb und hat nie das Bedürfnis verspürt, einen Krebs aus der Nähe zu betrachten. Bis ihm ein Bekannter vor zwei Jahren von der Katastrophe erzählte: der Immobilienkrise der Einsiedlerkrebse.

Pagurus bernhardus ist eines der Tiere, bei denen man leicht das Gefühl bekommt, die Evolution sei gelegentlich ziemlich gemein. Anders als alle übrigen Krebsarten ist der Einsiedler nur vorne gepanzert. Sein Hinterteil ist weich und extrem verletzbar, zu allem Überfluss befinden sich gerade dort die wichtigsten inneren Organe. Weil ihm ohne Schutz wenig anderes übrig bliebe als auszusterben, sucht er sich leere Schneckenhäuser, in die er sein Hinterteil steckt. Da er aber ständig wächst, muss er regelmäßig nach neuen, geräumigeren Behausungen Ausschau halten, in den ersten Lebensjahren alle paar Monate. Genau hier liegt das Problem: Seit Jahren gibt es viel zu wenige freie Häuser, jedenfalls in den Vereinigten Staaten.

Miles Lightwood kennt Fotos, die zeigen, in welche ungeeigneten Behausungen Einsiedlerkrebse ziehen, wenn sie kein leeres Schneckenhaus finden. In Verschlüsse von Shampoo- oder Colaflaschen, in Einmachgläser, in Plastikbecher oder anderen Zivilisationsmüll. Notfalls bleiben die Tiere in ihren alten Behausungen und wachsen nicht weiter. Experten schätzen, dass in manchen Gegenden der USA mittlerweile jeder dritte frei lebende Einsiedlerkrebs in einer zu engen Behausung lebt. Die Wohnraumnot führt auch zu Gewalt: Biologen haben Krebse beobachtet, die schwächere Artgenossen aus deren Schneckenhäusern ziehen, um selbst dort unterzukommen. Bei Anisopagurus pygmaeus, einer der aggressiveren der 1100 bekannten Einsiedlerkrebs-Unterarten, wurden Attacken mit bis zu 110 Scherenschlägen pro Minute gezählt.

Der Gemeine Einsiedlerkrebs ohne Gehäuse.

© Arnstein Rønning/CC

Die Immobilienkrise ist menschengemacht. In den USA gelten Einsiedlerkrebse als ideale Haustiere, weil sie keine Krankheiten übertragen und keine Allergien auslösen, weil sie nicht stinken und kaum Platz und Pflege benötigen. Die Ernährung ist unproblematisch, sie fressen Salatblätter, Bananen und Trauben, und wer das Füttern vergisst, muss sich keine Sorgen machen: Die Tiere legen sich an mehreren Stellen des Terrariums Nahrungsverstecke für schwere Zeiten an.

Die vielen Vorzüge haben Einsiedlerkrebse zu Verkaufsrennern in US-Tierhandlungen gemacht. Sechs bis acht Dollar kostet ein Jungtier. Natürlich brauchen die Krebse auch im Terrarium regelmäßig neue, geräumigere Schneckenhäuser. Diese werden ebenfalls in allen denkbaren Größen im Fachhandel angeboten – sie stammen aber nicht aus Züchtungen, sondern wurden zu Zehntausenden in der Wildnis gesammelt, wo sie dann fehlen.

Miles Lightwoods große Idee

Miles Lightwood am Drucker.

© Geri Soriano-Lightwood

Miles Lightwood, der Software-Techniker aus Kalifornien, besaß zwei Dinge: den Willen, die Not der Einsiedlerkrebse zu lindern, und einen sogenannten 3-D-Drucker, eine etwa umzugskartongroße Maschine, von der Lightwood nicht recht wusste, was man als Laie damit halbwegs Sinnvolles anfangen könnte. In der Industrie kommen solche Drucker seit Jahrzehnten zum Einsatz, etwa um Prototypen herzustellen. Mittlerweile gibt es auch preiswerte Geräte, mit denen Hobbybastler dreidimensionale Formen aus Plastik oder Gips drucken können. Eine kleine, weltweit vernetzte Gemeinschaft von Designern und anderen Kreativen tobt sich an den heimischen Druckern aus und stellt die Ergebnisse ins Internet: Zombie-Figuren und Einhörner, Star-Wars-Roboter und Schlüsselanhänger, Aschenbecher und Kaffeetassen. Miles Lightwood dachte: Was wäre, wenn jemand diese Technik benutzt, um künstliche Schneckenhäuser zu produzieren? Und die Baupläne dann mit anderen Computerfreaks teilt, die ebenfalls Häuser drucken und diese massenhaft in der Natur aussetzen, um Einsiedlerkrebsen ein Zuhause zu schenken?

So weit ist es noch nicht, denn obwohl Lightwood in den vergangenen sechs Monaten viele Mitstreiter fand und das gemeinnützige Netzwerk „Project Shellter“ gründete, bleibt eine zentrale Frage ungeklärt: Aus welchem Material sollten die Schneckenhäuser idealerweise bestehen? Plastik wäre simpel und kostengünstig, aber ein Teil der Aktivisten glaubt, dass es keine wirklich gute Idee wäre, zehntausende Plastikteile in die Natur zu kippen.

Sie könnten auch Plastik verwenden, das sich nach einiger Zeit rückstandsfrei auflöst. Zum Beispiel Polylactide, kurz PLA. Das sind durch Wärmezufuhr verformbare Kunststoffe, die heute bereits in der Humanmedizin für resorbierbare Implantate, Schrauben oder Nähte benutzt werden. Andererseits sagt Lightwood: Warum etwas Gutes schaffen, was irgendwann wieder verschwindet? Sobald dem einen Krebs das Plastikgehäuse zu klein werde, könne es schließlich der nächste beziehen.

Einsiedlerkrebse in natürlichen und künstlichen Gehäusen.

© privat

Bis in der Materialfrage Konsens herrscht, sollen keine Häuser in der Natur ausgesetzt werden. Dafür aber bereits in den Terrarien des Landes – um so die Nachfrage nach echten Schneckenhäusern zu drosseln. Zunächst gelang es nicht, Häuser zu drucken, die von den Tieren akzeptiert werden. Sie müssen leicht, stabil und innen gewunden sein.

Der Einsiedlerkrebs hat zehn Gliedmaßen: zwei Scheren, vier Beine zum Laufen und vier weitere, deutlich kleinere, mit denen er sich im Gehäuse festhält. Von den Scheren ist eine überdimensional breiter als die andere – sie dient als Verschluss, wenn sich der Krebs bei Gefahr komplett mit allen anderen Extremitäten in das Schneckenhaus zurückgezogen hat. Je nachdem, auf welcher Seite die größere Schere ist, spricht man vom Rechtshändigen oder Linkshändigen Einsiedlerkrebs. All das muss beim Design berücksichtigt werden.

Auf der Suche nach artgerechten Bauplänen haben sich die Aktivisten Hilfe von Katherine Bulinski geholt, einer Unidozentin aus Louisville, Kentucky, die schon seit 2007 zum Einsiedlerkrebs und seiner Wohnraumknappheit forscht. Inzwischen gibt es mehrere Prototypen, deren Baupläne kostenlos im Internet heruntergeladen und von anderen Bastlern weiterentwickelt werden können. Erste Tests haben gezeigt, dass die Tiere helle Farben bevorzugen, sich auch in knallgelben Gehäusen wohlfühlen. Grün lehnen sie strikt ab. In wenigen Tagen wird die Forschung stark ausgeweitet: Zwei Hochschulen in Massachusetts steigen in das Projekt ein.

Es ist doch so, sagt Miles Lightwood: Dass eine Idee deinen Mitmenschen fragwürdig erscheint, dass Freunde dich fragen, ob du verrückt geworden bist oder bloß albern – das alles ist noch lange kein Grund, einfach aufzugeben.

Als er mit seinem Plan begann, war er neugierig, ob man in Schneckenhäusern aus Plastik wohl auch dieses Meeresrauschen hört, sobald man sie sich ans Ohr hält. Man hört es, sagt Miles Lightwood jetzt. Und es klinge gar nicht künstlich.

Weitere Informationen über das Projekt gibt es hier.

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