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Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan auf einem Archivbild von 2012.

© dapd

Türkei und Flüchtlinge: Warum Angela Merkel mit Erdogan reden muss

Gespräche mit Assad erwägen, aber nicht in die Türkei reisen? Die EU braucht die Türkei in der Flüchtlingskrise mehr als jeden anderen Staat. Wer schweigt, bewegt nichts. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Angela Merkel hört nicht auf Cem Özdemir. Während der Vorsitzende der Grünen die Europäische Union aufgefordert hat, Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bis zur Parlamentswahl am 1. November auf Eis zu legen, reist die Bundeskanzlerin am Sonntag in dieses Land, das durch den Streit über die Hintergründe des furchtbaren Selbstmordattentats innenpolitisch noch mehr als zuvor zerrissen ist.

Özdemir wirft Erdogan vor, er habe durch seine Politik gegenüber den Kurden und sein schwer durchschaubares Engagement im Syrienkonflikt „den Tod seiner Bürger, Polizisten und Soldaten“ in Kauf genommen. Merkel will mit eben diesem türkischen Politiker sprechen, weil ohne ihn eine Bewältigung der Flüchtlingskrise unmöglich ist.

Es ist gut, dass Merkel nicht auf Özdemir hört, sondern die realpolitische Lösung eines Problems sucht, das, bekommen es die Entscheider der Europäischen Union nicht in den Griff, Sprengstoff für das Bemühen um friedliches Zusammenleben mit Menschen auf der Suche nach Asyl werden könnte.

Am guten Willen der großen Mehrheit der Deutschen, Flüchtlingen aus den nahöstlichen Bürgerkriegsregionen eine vorläufige oder auch längerfristige Heimstatt zu geben, sollte man nicht zweifeln. Das setzt Einfühlungsvermögen auf beiden Seiten voraus, vor allem aber, dass ein Ende oder zumindest ein Nachlassen der unkontrollierten Zuwanderung absehbar ist.

Die EU kann Außengrenzen nur sichern, wenn die Türkei hilft

Die Europäische Union kann ihre Außengrenzen nur sichern – und das ist die unabdingbare Voraussetzung für eine Kontrolle der Fluchtbewegungen –, wenn die Nachbarn das Ihre beitragen. Das betrifft die Türkei mehr als jeden anderen Staat. Nur wenn die EU die Türkei zum sicheren Herkunftsstaat erklärt, kann sie aber die Aufnahme von Flüchtlingen verweigern, die aus diesem Land einreisen.

Wer das unter Hinweis auf undemokratisches Gebahren Erdogans verweigert, muss ertragen, dass weiter jeden Monat zehntausende Flüchtlinge kommen. Europa wird also mit der Türkei ein Abkommen schließen müssen, das auch die Rücknahme solcher Bürgerkriegsflüchtlinge regelt – und dafür muss die EU der Türkei ganz erhebliche Mittel zur Verfügung stellen, um die Unterbringung und Verpflegung der Zurückgewiesenen in dortigen Lagern mitzufinanzieren.

Das alleine wird nicht reichen. Die Türkei verlangt seit Langem Erleichterungen bei der Visaerteilung. Europa, Deutschland, kann nicht die Hilfe der Türkei erbitten und sie gleichzeitig wie einen Paria behandeln. Und für eine Lösung des Syrienkonflikts, des Ausgangspunkts der Fluchtbewegung, braucht man neben Iran und Saudi-Arabien sowie Russland und den USA vor allem die Türkei.

Wie auch immer wir meinen, uns aus durchaus ehrenwerten Motiven Handlungszwängen entziehen zu können – jede Bundesregierung hat in erster Linie die Pflicht, Schaden von Deutschland fernzuhalten. Wenn jemand wie Merkel das nun auch durch Gespräche in der Türkei versucht, sollte niemand sich anmaßen, ausgerechnet ihr einen Mangel an Menschlichkeit zu unterstellen.

Und jene, die es als Kulturbruch empfänden, jetzt mit Erdogan zu reden, sollten sich erinnern, dass sogar ein furchtbarer Diktator wie Baschar al Assad in Syrien als Gesprächspartner bei der Konfliktlösung nicht mehr tabu ist. Mit dem, aber nicht mit Erdogan reden? Da geraten doch wohl alle Maßstäbe ins Rutschen.

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