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Flüchtlingskinder im Flüchtlingslager in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien

© dpa

EU-Gipfel mit Türkei zur Flüchtlingskrise: Fliegt uns Europa demnächst um die Ohren?

In der Flüchtlingskrise braucht die Europäische Union politischen Druck, nicht Fatalismus. Das ist auch eine Lehre aus früheren Schwächephasen. Ein Gastbeitrag.

Selten hat man so oft wie in diesem Jahr gehört, dass uns die europäische Union demnächst um die Ohren fliegen wird. Selbst Insider wie der luxemburgische Außenminister wählen solche Worte. Ist an dieser Befürchtung von prominenten Europapolitikern etwas dran oder blickt die politische Klasse Europas zu düster in die Zukunft?

Natürlich haben Politiker, die so nah an europäischen Entscheidungen sind, ihre guten Gründe: Europa ist in der Flüchtlingspolitik so tief gespalten wie kaum einmal. Auch die Austrittsdebatte in Großbritannien und die europaskeptischen Regierungen in Ungarn und in Polen machen zudem schwere Sorgen. Das Griechenlandproblem ist stillgestellt, aber nicht gelöst.

Schlimmer noch: Alles, was die Europäer zum Zusammenschluss antrieb, entwickelt sich enttäuschend: Der wirtschaftliche Wohlstand durch europäische Integration ist in vielen Mitgliedsländern versiegt. Der Friede in Europa ist bedroht durch den Bürgerkrieg in der Ukraine und die neuen Spannungen mit Russland. Die Demokratie in der Europäischen Union hat ihre Selbstsicherheit durch gelenkte Demokratien wie im Mitgliedsland Ungarn und durch korrumpierte Demokratien wie im Mitgliedsland Bulgarien verloren. Die Selbstverständlichkeit der gemeinsamen Werte ist nicht mehr so klar. Auch die Stimme Europas in der Welt ist schwächer geworden.

Auch Deutschland ist in der Flüchtlingsfrage tief gespalten

Fliegt uns deshalb Europa nicht doch um die Ohren? Es sieht nicht danach aus. Man verdrängt zu leicht drei Dinge.

Anders als in der letzten großen Krise der europäischen Integration vor rund vierzig Jahren funktionieren heute die europäischen Entscheidungsinstanzen vergleichsweise gut. Die fünf wichtigen Instanzen, Europaparlament, Europäischer Rat, Europäische Kommission, Europäische Zentralbank und Europäischer Gerichtshof in Luxemburg machen ihre Arbeit.

Es stimmt, dass in der Flüchtlingsfrage der Europäische Rat tief gespalten ist und er derzeit seine Entscheidungen über die Verteilung der Flüchtlinge nicht durchsetzen kann. Aber in einer wichtigen anderen Frage, in der Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union, findet er zunehmend eine gemeinsame Linie. Man kann zudem nicht erwarten, weder von der Europäischen Union noch von einem Nationalstaat, dass in allen Fragen rasch Konsens gefunden wird. Auch Deutschland ist in der Flüchtlingsfrage tief gespalten.

In vielen Bereichen funktioniert die EU

Die Europäische Union wegen der Flüchtlingskrise in einer existentiellen Krise zu sehen heißt, ihre Entscheidungenfähigkeit in allen anderen Bereichen beiseite zu drängen. Hat die Europäische Union in der Bankenkrise, in der Schuldenkrise, im Konflikt um die Ukraine, im Konflikt in Zentralafrika, im Datenschutz nicht einigermaßen rasch entschieden?

Es soll nicht bestritten werden, dass die Flüchtlingsfrage uns alle aufwühlt, eine verantwortungsschwere Aufgabe ist und für die nächsten Jahre bleiben wird. Aber zu glauben, dass die Europäische Union auseinanderfliegt, nur weil sie in der Flüchtlingsfrage nicht in wenigen Monaten zu einer konsensualen Entscheidung kam, wirkt übereilt. Der Flüchtlingsstrom  ist eine völlig neue Frage für die Europäische Union, alles andere als eine jahrzehntelang eingespielte Routine. Sie benötigt  Zeit, auch wenn die Probleme drängen. Sie braucht politischen Druck, nicht Fatalismus.

Die Europäische Union ist auch deshalb nicht am Auseinanderfallen, weil sie keine so dauerhaften Vertrauensverluste erlitten hat, wie behauptet wird. In der Schuldenkrise büßte die Europäische Union zwischen  2011 und 2013 bei den Bürgen ungewöhnlich viel Vertrauen ein, hatte aber schon 2014 das Vertrauen wieder zurückgewonnen. Sie hatte gehandelt.

Die Flüchtlingskrise hat im Herbst 2015 zu einem erneuten Einbruch dieses Vertrauens geführt, besonders scharf in  Deutschland. Aber dieser erneute Einbruch geht nicht mehr so tief. Wenn die Europäische Union wieder wirkungsvoll entscheidet, gewinnt sie erfahrungsgemäß wieder an Zuspruch. Zudem setzen die Europäer in den meisten Mitgliedsländern weiterhin ein größeres Vertrauen in die Europäische Union als in ihren nationalen Regierungen mit ihren häufigen Skandalen. Die Europäische Union leidet tatsächlich darunter weniger.

Darüber hinaus bleiben die Erwartungen an die Europäische Union weiterhin hoch. Natürlich kann man nicht übersehen, dass europafeindlichen Parteien in einer ganze Reihe von Ländern viel Stimmen gewonnen haben und eine gefährliche Politik vor allem in Ungarn und in Polen betreiben.

Aber diese Parteien  wurden in der Regel nicht wegen ihrer Europafeindlichkeit, sondern aus anderen, nationalen Gründen gewählt. Man mag das auf den ersten Blick nicht glauben: In Polen und auch in Ungarn besitzt die Europäische Union mehr Vertrauen bei den Bürgern als in vielen west- und südeuropäischen Ländern, neuerdings auch mehr Vertrauen als in Deutschland.

2015 blickten fast 90 Prozent der Deutschen positiv in die Zukunft

Die Europäische Union wird uns schließlich deshalb nicht um die Ohren fliegen, weil der neue, ganz ungewohnte, ungewöhnlich große und umstrittene Einfluss eines einzigen Landes, Deutschlands, in der europäische Politik der Europäischen Union nicht auf Dauer bestehen bleiben wird. Die Führung der Europäischen Union durch ein einziges Land funktioniert nicht gut und hat auch unter de Gaulle in den 1960er Jahren nicht gut funktioniert. Die Europäische Union wird wieder zu einer normalen Führungsgruppe von zwei oder mehreren  Ländern zurückkehren, zu der Deutschland natürlich gehören wird.

Der ungewöhnlich große Einfluss Deutschlands beruht auf drei keineswegs dauerhaften Gründen: auf der relativ großen ökonomischen Stärke Deutschlands, die vor zehn Jahren nicht bestand und in zehn Jahren ebenfalls wieder verschwunden sein kann; vor allem auf der europapolitischen Schwäche anderer Länder, besonders Frankreichs, aber auch Großbritanniens, Italiens und Spaniens. Diese Schwäche wird nicht anhalten. Italien ist auf dem Weg zu einer stärkeren Position. Spanien, das keine europafeindliche Partei besitzt, wird zu seinem früheren starken Einfluss zurückfinden, sobald eine stabile Regierung eingesetzt ist und den wirtschaftlichen Aufschwung nutzt. Frankreich dürfte zu seinem Einflusswillen in Europa spätestens nach der Präsidentenwahl 2017 zurückkehren, Großbritannien nach dem Referendum hoffentlich ebenfalls zu einer sicher anders gearteten wichtigen Rolle.

Das deutsche Gewicht wird sich auch deshalb nicht halten, weil die Zeit ausläuft, in der Politik Deutschlands von einer Mehrheit der Regierungen in der Union unterstützt wird. Die deutsche wirtschaftliche Ordnungspolitik lag lange Zeit im globalen Trend und wurde von der Weltbank und vom  Internationalen Währungsfonds unterstützt, auch wenn sie im Süden Europas und in Frankreich auf heftigen Widerstand stieß. Das hat sich geändert.

Die deutsche Regierung hat zudem in der Flüchtlingspolitik kaum noch Unterstützung durch andere Regierungen. Sie wirkt isoliert. Die Situation erinnert an die Isolation des Frankreichs de Gaulles in der Krise der europäischen Integration 1965/66. Man erinnere sich allerdings: Nur drei Jahre später war Frankreich aus dieser Isolation ausgebrochen, zur deutsch-französischen Zusammenarbeit zurückgekehrt und trug entscheidend dazu bei, in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf dem Gipfel von Den Haag 1969 die weitblickendsten Beschlüsse jenes Jahrzehnts zu treffen.

Man sollte schließlich nicht übersehen, dass die Ängste vor einem Auseinanderfliegen der Europäischen Union besonders oft in der deutschen Öffentlichkeit geäußert werden. Das hat weniger mit deutscher Europaablehnung, sondern mehr mit Ängsten vor Verlust einer sehr geschätzten Institution zu tun. Deutschland gewinnt auch besonders viel von der Europäischen Union. Aber auch das Gefühl, auf einer Insel der Glückseligen zu leben, während  das europäische Meer darum herum aufgewühlt ist, nimmt zu. 2015 blickten fast 90 Prozent der Deutschen positiv in die Zukunft, aber nur die Hälfte der Österreicher, Polen und Tschechen und sogar nur 13 Prozent der Franzosen.

Man sollte deshalb nicht vergessen, dass wir unseren Einfluss in Europa nur halten  können, wenn wir uns in die sehr verschiedene Situation der Anderen hinein denken. Einsame, unabgesprochene, aber folgenreiche Entscheidungen, auch wenn sie moralisch voll begründet sind, sollten wir in Zukunft vermeiden, weil sie in der Regel nur zur Enttäuschung über angeblich fehlende europäische Solidarität und zu noch größeren deutschen Ängsten vor einem Auseinanderfallen der Europäischen Union führen.

Hartmut Kaelble

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