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Das war Anfang September in Berlin-Spandau. Damals hieß es noch: "Wir schaffen das".

© dpa

Angela Merkel und die Flüchtlinge: Auch die Moral wandelt sich

Die Flüchtlinge aus Ungarn nahm Merkel einst auf, die in Griechenland sollen nun bleiben. Ein halbes Jahr Crashkurs über die Grenzen praktizierter Nächstenliebe hat viele und vieles verändert. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Ein halbes Jahr ist das her. In Österreich ersticken 71 Flüchtlinge in einem Kühltransporter. Der dreijährige Ailan wird tot am Strand von Bodrum gefunden. Mehr als tausend Flüchtlinge gehen von Budapest zur österreichischen Grenze. Daraufhin beschließt Angela Merkel, die Menschen ins Land zu lassen. „Es gibt Situationen, in denen muss entschieden werden. Ich konnte nicht zwölf Stunden warten und überlegen“, sagt sie später. Ihren Kritikern hält sie schroff entgegen: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Heute sieht die Lage so aus: Die Balkanroute ist geschlossen, tausende Flüchtlinge sitzen an der griechisch-mazedonischen Grenze fest, wer die Barrieren überwinden will, wird mit Tränengas davon abgehalten, einige Menschen rufen verzweifelt „Mama Merkel“. Doch diesmal reagiert die Bundeskanzlerin anders. Die Politik des Durchwinkens müsse beendet werden, sagt sie, es gebe „eben nicht ein Recht, dass ein Flüchtling sagen kann, ich will in einem bestimmten Land der Europäischen Union Asyl bekommen“, eine Übernahme von Flüchtlingen aus Griechenland direkt nach Deutschland lehnt sie strikt ab, die Situation sei mit der damaligen nicht vergleichbar.

Ist sie das wirklich nicht? Was unterscheidet die einen Menschen in Not von den anderen Menschen in Not? Die Bilder aus Idomeni zeigen doch dieselbe Mischung aus Hoffnung, Angst und Elend in den Gesichtern der Flüchtlinge. Nur durch kühle Spitzfindigkeiten ließe sich erklären, warum ein humanitärer Imperativ damals richtig war und heute falsch wäre. Dennoch wird Merkels Weigerung, nun erneut eine größere Zahl von Flüchtlingen in Deutschland aufzunehmen, auch um einer weiteren Destabilisierung Griechenlands entgegenzuwirken, klaglos hingenommen. Keine Proteste.

Die Warner und Mahner sind nun in der Siehste-Pose

„Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen“ (Tempora mutantur, nos et mutamur in illis), heißt ein altes Sprichwort. Die neuen Zeiten zeugen von einer ungewohnten Härte im Aushalten schrecklicher Bilder, von einem verschärften Asylrecht, von kontrollierten oder geschlossenen Grenzen und von der teils resignativen, teils realistischen Erkenntnis: Wir schaffen (es) nicht mehr. Merkels Flüchtlingspolitik war für sie wie für das Land ein Crashkurs über Möglichkeiten und Grenzen praktizierter Nächstenliebe. Es mag bitter sein, nun die Warner und Mahner in der Siehste-Pose ertragen zu müssen. Aber der Triumph der Rechthaber entwertet weder den spontanen Hilfe-Impuls noch die spätere Rückkehr zu einer Hilfe mit Augenmaß.

Allerdings wäre es gut, Merkel würde die Deutschen an diesem Lernprozess teilhaben lassen. Ihren abrupten Schwenk in der Atompolitik vor fünf Jahren, ausgelöst durch die Katastrophe in Fukushima, begründete sie mit dem Satz: „Ich habe persönlich nicht erwartet, dass das, was ich für mich bis dahin als ein theoretisches und nur deshalb verantwortbares Restrisiko gesehen hatte, Realität wird.“ Dann fügte sie hinzu: „Ich weiß, dass andere Menschen vor solchen Gefahren durchaus gewarnt haben.“

Würde Merkel ihren Schwenk in der Flüchtlingspolitik ähnlich offenherzig erklären, könnten Hell- und Dunkel-Deutschland zu einem freundlichen Grau zusammenfinden. Nötig wäre es.

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