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— SZENARIO 3 —: Täglich grüßt der Wowi

Am 6. Oktober 2787 ist niemandem in Berlin so richtig zum Feiern zumute – zu lähmend ist der Überdruss an der Wiederkehr des Immergleichen.

Am 6. Oktober 2787 ist niemandem in Berlin so richtig zum Feiern zumute – zu lähmend ist der Überdruss an der Wiederkehr des Immergleichen. Seit der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit an diesem Tag 774 Jahre zuvor vor die Fernsehkameras getreten war, um den Bürgern die erneute Verschiebung der Flughafeneröffnung in Schönefeld um zwei Jahre mitzuteilen, hat sich die Stadt in einer Zeitschleife gefangen. „Und täglich grüßt der Wowereit“ spotten die ersten Kenner schon nach einem Tag, als sie noch nicht ahnen, was auf sie zukommt. Bald zeigt sich: Jeden Morgen beginnt der fatale Tag von vorn, mit den immergleichen Worten Wowereits: „Ich sag’ mal so: Es ist kein Beinbruch, wir sind hier nicht in Haiti, aber ich ärgere mich doch.“

Das Unglück will es, dass dieser Tag der Berliner Geschichte auch sonst nicht zu den besten gehört. Am frühen Morgen bricht der Verkehr auf dem S-Bahnring zusammen, weil ein Stellwerksmeister versehentlich seine Latte Macchiato in den Computer gekippt hat. Auf der Rudolf-Wissell-Brücke verunglückt ein Lastwagen, der 15 Tonnen Zweikomponentenkleber geladen hat. Und das Bundesverwaltungsgericht verurteilt die Flughafengesellschaft dazu, sämtliche rund um den neuen Flughafen verbauten Lärmschutzfenster auszubauen und durch neue zu ersetzen, die das brandneue EU-Prüfzeichen 1/3579/27-AF/BER tragen. Doch es gibt auch Positives an diesem Tag: Das Wetter ist trocken und angenehm mild, die neue Wirtschaftssenatorin Heidi Hetzer (parteilos, für die CDU) tritt unter viel Beifall ihren neuen Posten an, und die Fertigstellung des Humboldt-Forums wird nun endgültig auf Sommer 2024 festgelegt; die Baukosten sollen bis dahin maximal um moderate 112 Prozent steigen.

Dieser Tag besiegelt nun das Ende der Berliner Geschichte, da er sich für alle Beteiligen täglich wiederholt. Flucht ist zwecklos, jeder Bürger fängt am nächsten Morgen wieder an der alten Stelle an. Finanzsenator Ulrich Nußbaum ist der Erste, der die Vorteile der kuriosen Situation erkennt. „Geld brauchen wir an sich keins mehr“, sagt er beiläufig, „es kann ja nichts mehr kaputter gehen, als es jetzt schon ist.“ Ohnehin wäre es sinnlos, beispielsweise Millionen für die Reparatur der Wissell-Brücke bereitzustellen, „weil die ja jeden Tag wieder verkleistert wird“. Und es sei auch niemand in Sicht, der neue Rechnungen im Zusammenhang mit dem Flughafen stellen könne. Er sei im Grunde geneigt, sich als überflüssig einzustufen und deshalb zurückzutreten, sagt er, „aber morgen früh bin ich ja schon wieder im Amt“. Ähnlich pragmatisch sehen es weitere Amtsträger; Sozialsenatorin Kolat betont, die fortschreitende Überalterung der Stadt sei nun definitiv gestoppt, Innensenator Henkel zeigt sich erleichtert darüber, dass der NSU-Untersuchungsausschuss nun nicht mehr tagen könne und auch ein neuer 1. Mai nicht in Sicht sei. „Ich sage mal, diese Zeitschleife hat viel dazu beigetragen, dass sich Berlin wieder auf seine Stärken besinnt.“ Mit dieser zufriedenen Bilanz fügt sich Berlin in sein Schicksal. Die nächsten 775 Jahre können kommen. Man hat sich schon so an sie gewöhnt.

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