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49 Jahre Mauerbau: 135 Meter Hoffnung

An der Schönholzer Straße wurde 1962 in monatelanger Arbeit ein Fluchttunnel in die Freiheit gebaut. Der Verein Berliner Unterwelten möchte den "Tunnel 29" nun wieder erlebbar machen.

Eine Gruppe fröhlicher Fahrradtouristen aus den Niederlanden radelt über den einstigen „Postenweg“, einen betonierten Pfad am Rande des früheren Todesstreifens zwischen Bernauer und Schönholzer Straße. Die Stadtführerin erklärt den Bau der Mauer am 13. August vor 49 Jahren, die jungen Zuhörer staunen ungläubig, dass es so etwas je gegeben hat – eine Stadt an einem sonnigen Sonntag in ihrer Mitte durchzuschneiden und eine Mauer zu bauen, über die niemand von der einen Seite auf die andere kommt. „Aber es gab mutige Menschen, die unter Lebensgefahr Tunnel gegraben haben, um vom Osten in den Westen zu flüchten“, sagt die touristische Führerin und hält einen Ordner mit Fotos über den Kopf. „Dies hier ist so ein Tunneleinstieg.“ Es sind wahrhaft fantastische Bilder. Fotos, die die Fantasie beflügeln.

Und wenn es nach Dietmar Arnold, dem Chef des Vereins Berliner Unterwelten, ginge, käme eines Tages der nächste Schritt. Dann erklären die Guides auch die Realität, wie sie sich an dieser Stelle direkt unter unseren Füßen darstellt. „Hier nämlich, genau hier, verlief ein Fluchttunnel“, sagt der profunde Kenner des unterirdischen Berlin, „sieben Meter tief, etwa 80 Zentimeter breit und höchstens 120 Zentimeter hoch. Die Leute mussten auf allen Vieren in die Freiheit kriechen. 29 haben es geschafft, damals, am 14. und 15. September 1962. Deshalb sprechen wir hier vom Tunnel 29.“ Im Buch „Die Fluchttunnel von Berlin“ erzählt ein Beteiligter, wie es damals war: „Es waren immer vier bis fünf Leute in einer Schicht. Einer hat vorn gebuddelt, einer hat unten im Schacht gestanden und die Karre mit dem Aushubmaterial zurückgezogen, und zwei haben hochgezogen. Dann musste das Zeug ja noch mit einer Schubkarre im Keller verteilt werden. Das lief in zwei Schichten. Wenn nichts Außergewöhnliches passierte, dann waren zwei Meter am Tag immer so ein Maß, das wir schaffen wollten. Das war unser Ehrgeiz.“ 135 lange Meter waren es am Ende, von einer West-Fabrikruine bis zum Keller im Ost-Haus Schönholzer Straße 7. An dessen cremefarbiger Fassade erzählt jetzt eine Tafel von Tunnel und Flucht: „Gegraben von mutigen Männern, die diesen gefährlichen Weg wählten, um ihre Frauen, Kinder, Angehörige und Freunde wieder in die Arme schließen zu können.“ Außer diesem Hinweis gibt es keine Erinnerung an den „Tunnel 29“ – die Zahl sagt, wie vielen Menschen der unterirdische Weg in die Freiheit gelang. Dietmar Arnold weiß um das riesige Geschichtsinteresse der Touristen aus aller Welt. Er möchte das Geschehen sichtbar und damit erlebbar machen. Fachleute untersuchen jetzt den Untergrund, die genaue Lage und den Zustand des Tunnels. Auf dem noch unbebauten Grundstück könnte es ein „Fenster in die Geschichte“ geben, eine zwei Quadratmeter große durchsichtige Platte, die den Blick in die Abgründe deutscher Zustände nach dem Mauerbau ermöglicht – Geschichte zum Anfassen, sehr konkret, authentisch und keineswegs gekünstelt, wie es Pläne zur Gestaltung des Mauerverlaufs in der Bernauer Straße vorsehen. Da seien rostige Bänder zur Markierung des Tunnelverlaufs geplant: Dietmar Arnold kann nicht verstehen, wie man die Mauer „symbolisch“ durch ein paar rostige Stahlstangen vermitteln möchte, aber nicht verhindert, dass das nur noch an wenigen Stellen erhaltene Original zerbröselt und verkommt. Authentische Orte würden gewissermaßen künstlerisch verfremdet – die Brutalität des Ganzen wird dadurch bagatellisiert, sagt Arnold. „Und am Ende fragt dann ein Schüler bei einem Stadtspaziergang allen Ernstes, warum der Hitler den Reichstag so nah an die Mauer gebaut hat.“

Die Tour „M“ des Unterwelt-Vereins ist sehr begehrt, besonders ein Fluchttunnel-Modell. 200 000 Gäste zählten die Unterweltler im vorigen Jahr bei ihren Führungen durch dunkle Gemäuer, Bunker und Ruinen. Fluchttunnel wären eine gute Ergänzung. Dann könnte auch Burkhard Veigel seine Geschichten erzählen. Von den 70 dokumentierten Fluchttunneln nach dem Mauerbau, von Triumph und Verrat und Verzweiflung. Der Orthopäde und Schriftsteller erlebte den Mauerbau als Student in Berlin. „Hass und Verachtung für dieses Regime“, das mit der Mauer auch viele Grenzgängerstudenten ausgesperrt hatte, waren seine Motive für die Fluchthilfen. Burkhart Veigel erzählt von dem Mut, andere Menschen in die Freiheit zu schleusen. Er schreibt an einem Buch mit dem Titel „Mauerbrecher“ – auch über Fluchttunnel als „Symbole für das Freiheitsstreben“. Heute um 17 Uhr treffen sich Flüchtlinge, Fluchthelfer und Tunnelbauer an der Schönholzer Straße 7, es gibt Führungen durch die „Bernauer“ und zu den Tunneln von einst. Lothar Heinke

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