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Berlin: Abfahrt in den Tod um 6.07 Uhr

Vom Anhalter Bahnhof aus wurden 9600 jüdische Berliner deportiert. Für sie gibt es nun dort ein Denkmal

Viele Stationen der Verfolgung der Berliner Juden sind gut sichtbar dokumentiert. Man kann zum Beispiel die Villa der Wannseekonferenz besichtigen, überall in der Stadt erinnern „Stolpersteine“ vor Wohnhäusern an die ermordeten jüdischen Nachbarn. Und doch: Bislang wies keine Tafel, kein Schild darauf hin, dass der Anhalter Bahnhof in Kreuzberg eine der drei zentralen Stationen war, von denen aus die Berliner Juden in die Konzentrationslager deportiert wurden.

Auch eine allgemeine Information über die Bedeutung des Bahnhofs an der Stresemannstraße, fehlt. Wer nicht weiß, dass die Überreste des Portals früher zu einem Bahnhof gehörten, könnte auch vermuten, dass sie den Eingang zu einem prächtigen Opernhaus bildeten.

Seit gestern erinnert nun wenigstens eine Stele hinter der Bahnhofsruine daran, dass zwischen 1942 und 1945 von hier aus 9600 Berliner Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt abtransportiert wurden. Es waren vornehmlich alte Menschen, die frühmorgens zum Anhalter Bahnhof gebracht und kurz vor 6 Uhr in Güterwaggons gepfercht wurden. Immer um 6.07 Uhr ging der normale Personenzug nach Prag ab, die Waggons nach Theresienstadt wurden angehängt. Wie die anderen Fahrgäste hatten auch die Juden, die in den Tod geschickt wurden, Gepäck dabei. 50 Kilogramm durften sie mitnehmen, ihnen war gesagt worden, sie würden zur Erholungskur fahren. Aber anders als die anderen, die auf Gleis 1 warteten, trugen sie einen gelben Stern und wurden bewacht.

„Es geschah vor aller Augen“, sagte die Kreuzberger Kulturstadträtin Sigrid Klebba (SPD) gestern bei der Übergabe der Gedenkstele. Dennoch habe es an den Bahngleisen keinerlei Proteste gegen den Abtransport der jüdischen Frauen und Männer gegeben.

Die jahrelangen Demütigungen, die systematische Ausgrenzung und die Angst hatten vielen, gerade den älteren Menschen, die Gesundheit ruiniert. Vor der Deportation waren sie zudem von ihren Familien getrennt worden. Die grausige Realität in Theresienstadt, wo jedem Häftling 1,6 Quadratmeter zum Leben, Schlafen und Sterben zur Verfügung standen, zerstörte vollends den Überlebenswillen. Die meisten Berliner Juden starben in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft in Theresienstadt. Viele andere wurden weiter ins Vernichtungslager Auschwitz transportiert.

Die einfache Aluminiumstele vor dem Anhalter Bahnhof, die die Senatskanzlei finanziert hat, soll nur ein Anfang für das Gedenken an diesem Ort sein. Sie soll durch ein künstlerisch gestaltetes Denkmal ersetzt werden, sagte Klebba – wenn der Bezirk irgendwann einmal wieder Geld habe. Von den drei Bahnhöfen Grunewald, Putlitzbrücke in Moabit und dem Anhalter Bahnhof wurden zwischen 1941 und 1945 insgesamt 50 000 Berliner Juden deportiert.

Ein paar Straßen vom Anhalter Bahnhof entfernt wurde gestern eine weitere Gedenktafel enthüllt. Sie macht auf die Geschichte des Malik-Verlages aufmerksam, der von 1923 bis 1926 im Meistersaal-Haus in der Köthener Straße seinen Sitz hatte und eine Buchhandlung und die Galerie George Grosz betrieb. Grosz und John Heartfield gestalteten viele Umschläge der im Malik-Verlag erschienenen Romane, dadaistischen Texte und politischen Schriften, darunter Bücher von Upton Sinclair, Wladimir Majakowski und Maxim Gorki. Da sich der Verlag mit seinem Programm dezidiert gegen Krieg und Faschismus wendete, mussten Verleger Wieland Herzfelde und die Mitarbeiter nach 1933 ins Ausland fliehen. Der heute existierende Malik-Verlag wurde in den 80er Jahren neu gegründet und verlegt Reiseliteratur, zuletzt Hape Kerkelings Bericht „Ich bin dann mal weg“ über seine Pilgerreise.

Claudia Keller

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