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Liebling Glocke. Jeffrey Bossin hat das Glockenspiel im Carillon-Turm im Tiergarten zur 750-Jahr-Feier Berlins entworfen. Seither gibt er dort an Wochenenden Konzerte - auch am 4. Adventssonntag.

© Thilo Rückeis

Adventsserie: Es weihnachtet sehr (6): Musik liegt in der Luft

Jeffrey Bossin bringt seit 25 Jahren Berlins größtes Instrument zum Klingen: das Carillon im Tiergarten. Im Turm hängen 68 Glocken, mit denen er musiziert. Daraus wird dann zum Beispiel Jingle Bells.

Da kann man schon außer Puste kommen. 172 Stufen steigt Jeffrey Bossin im engen Turm auf einer Wendeltreppe in den Himmel über Berlin, ehe er die allergrößte seiner Glocken erreicht. Bossin schnauft, tritt ins Freie, dann begrüßt er seine Favoritin mit einem Kopfnicken, streicht zärtlich über ihren Bronzemantel und lächelt verlegen. „Na ja“, sagt der 62-Jährige, „ich liebe eben meine Glocken.“ Wenn er die Arme ausbreitet, kann er die Größte von ihnen kaum zur Hälfte umfassen. Sie wiegt so viel wie sieben Kleinwagen, acht Tonnen nämlich. Und sie begeistert Bossin immer wieder aufs Neue mit ihrem „tiefen Bass“. Jetzt steigt er noch etwas höher im ungeschützten Glockenstuhl, muss den eisigen Wind ertragen, bis er die geheizte Spielkabine inmitten des Geläutes betritt: das Herzstück von Berlins größtem Instrument.

„Carillon“ heißt der 42 Meter hohe, anthrazitfarbene Turm gleich neben „Tipi“ und Kanzleramt im Tiergarten. 68 Glocken hängen gut sichtbar unter dem Flachdach in den obersten Etagen. Alle unterschiedlich groß und verschieden im Klang, die Kleinste wiegt acht Kilo und hört sich heller an als der höchste Ton eines Flügels. Jetzt, zur Adventszeit, spielt Jeffrey Bossin das Geläut besonders oft, wählt Choräle, Weihnachtslieder, besinnliche Klassik aus. Der Park ist sein Konzertsaal, die Spaziergänger, die Eltern und Kinder mit ihren Schlitten sind seine Zuhörer. Weil man Bossin von unten nicht sieht, glauben manche, dort oben sei ein mechanisches Glockenspiel. Andere sprechen von ihm als dem „Glöckner vom Tiergarten“. Alles falsch. Er bringt ja keine Glocken zum Schwingen, läutet sie nicht. Er hat einfach ein bespielbares Glockenspiel.

Der quirlige Mann mit dem amerikanischen Akzent musiziert an einem Spielpult, das dem einer Orgel ähnelt. Allerdings hat es keine Tasten, sondern daumendicke Stöcke, die aus dem Pult ragen. Bossin schaut in die Noten, holt tief Luft. Dann wirft er sich nach vorne und rackert wie andere Leute im Fitnessstudio. Seine Fäuste hauen im Wirbel auf die Stöcke, die Füße treten Pedale. Stöcke und Pedale sind über Seilzüge mit den Klöppeln verbunden. Die schlagen auf die Bronze. Mal heftig, mal sanfter. Doch selbst bei Adagio strengt sich Bossin an, vor allem bei den größten Glocken. Da geht er mit seinem ganzen Gewicht auf die Pedale. Und obwohl dem Carilloneur selten jemand zuschaut, legt er Wert aufs Äußere. Tritt nach jedem Konzert mit weißem Hemd und Fliege an die Balustrade vor der Kabine. Die Leute sollen sehen, „dass da oben ein Mensch, ein Musiker spielt“.

Jeffrey Bossin hat sich vor 24 Jahren mit dem Carillon einen Traum verwirklicht. In den Achtzigern kam der Musikwissenschaftler aus Kalifornien nach Berlin. Da hatte er schon das Carillon-Spiel gelernt, war fasziniert von der „Klanggewalt“ der Glockenspieltürme, die besonders in Belgien, den Niederlanden und USA beheimatet sind. Zur 750-Jahr-Feier Berlins 1987 schlug er dem Senat dann vor, einen solchen klingenden Turm im Tiergarten zu bauen. Bossin verwies auf die Glockenturm-Kultur Berlins, schließlich hatte Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. zwei Carillons für die Berliner Parochial- und die Potsdamer Garnisonkirche gestiftet. Beide wurden in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges zerstört.

Der Senat sagte Ja, Daimler-Benz bezahlte den Turm – und der umtriebige Musiker entwarf das Geläut, überwachte jeden Schritt bei Guss und Bau. Was gab es da nicht alles zu beachten: Kleine Glocken brauchen mehr Zinn und weniger Kupfer in der Bronzelegierung, bei den großen ist es eher umgekehrt. Vom Klöppelgewicht hängt ab, wie klar der Grundton hervortritt. „Das wusste schon Schiller“, sagt Bossin und zitiert das Lied von der Glocke: „. . . dass vom reinlichen Metalle rein und voll die Stimme schalle.“

Seither hat Berlin eines der weltweit besten Carillons mit einer Klangfülle, die beinahe an den Tonumfang eines Flügels heranreicht. Und Jeffrey Bossin ist offiziell Berlins Carilloneur, spielt an Wochenenden so gut wie alles, was seine Glocken hergeben – aus Mozarts Zauberflöte , Schumanns „Träumerei“, „La Mer“ von Charles Trénet oder derzeit gerne auch „Jingle Bells“. Glockenklänge sollen ja auch böse Geister vertreiben. Also wird Bossin zu Silvester in den Turm steigen – und das neue Jahr, sobald das Feuerwerk verhallt ist, klanggewaltig begrüßen.

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