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Aktion sauberer Himmel: Heißes Wasser statt heißer Luft

Fast 800.000 Tonnen werden in Berlin jährlich durch das Fernwärmenetz eingespart.

Vom Dach des 74 Meter hohen Kesselhauses ist der Überblick am besten: Nach Süden zur Spree, auf der sich kalt die Wintersonne spiegelt und gerade ein polnisches Schiff an der Kaimauer unterm Ladekran festmacht. Es hat Steinkohle geladen, die Bergleute vor einigen Tagen aus der Erde von Schlesien gefördert haben. Auf Golfballgröße zerkleinert, wurde sie die Oder hinauf gefahren, dann westwärts und von Spandau hierher zum Heizkraftwerk Reuter West. 500 Tonnen, von denen das Kraftwerk jetzt im Winter nicht einmal zwei Stunden lang satt wird. Deshalb schiebt außerdem eine Rangierlok zu Füßen des Kesselhauses immer neue Kohlewaggons aufs Kraftwerksgelände. Deshalb gräbt sich zusätzlich das Schaufelrad des Baggers durchs Kohlelager, das sich ostwärts ausbreitet, von den Kraftwerksschornsteinen bis fast zu den rotbraunen Industriegebäuden von Siemensstadt. Im Norden starten die Flugzeuge von Tegel und im Westen dampft der Kühlturm, der wegen der Nähe zur Einflugschneise nur 99,5 Meter hoch werden durfte. Am Horizont hängen die Rauchwolken der anderen Kraftwerke, die Berlin heizen. Und unter den eigenen Füßen, in einem der beiden Kesselhäuser, glüht das Herz von Reuter West bei 1100 Grad.

Gewaltiger Aufwand ist nötig, damit die Stadt im Winter nicht friert. Klaus Loeber zeigt ihn bei einer Runde durchs Kraftwerk. „Leiter Produktion“, steht auf seiner Visitenkarte. „Das umfasst Strom, Wärme und Gips“, präzisiert er. Er wird viel zu erklären haben in den nächsten zwei Stunden.

Die Fahrt mit dem Fabrikaufzug endet auf halber Höhe, bei den Kohlemühlen. Aus mächtigen Trichtern rutschen die Kohlestücke auf rotierende Metallteller, wo sie von Stahlwalzen zu Staub zermahlen werden. Ein starker Luftstrom bläst das Pulver aus den Mühlen durch einen von 16 Brennern in den Kessel. In dessen Hitze entzündet sich das Kohlenstaub-Luft-Gemisch explosionsartig. Nun muss die Energie genutzt werden. Dazu schlängelt sich durch das Höllenfeuer ein System von Rohren, in dem starke Pumpen Wasser mit mehr als 200 Bar drücken. Der Druck ist hundertmal so groß wie der in einem Autoreifen. Durch die Hitze wird aus dem Wasser Dampf. Der schießt mit unvorstellbarer Kraft und einer Starttemperatur von 540 Grad in die Turbinen in der Halle nebenan. Drei Mal nacheinander, dann wird er neu erhitzt. Die beiden Turbinen funktionieren nach dem Prinzip des Fahrraddynamos. Mit zwei wesentlichen Unterschieden: Statt des rollenden Reifens lässt der durchströmende Dampf ihren Magnetkern rotieren. Und der dabei erzeugte Strom reicht nicht für zwei Fahrradlampen, sondern für 80 Millionen.

Er würde auch für 100 Millionen reichen – aber ein Teil des Dampfes wird nach seiner zweiten Tour durch die Turbinen abgezweigt, um Fernwärme zu erzeugen. Seine Hitze wird in einen weiter unten gelegenen Raum geleitet, wo „die Heikos“ stehen, wie Loeber sie nennt. Das sind die Heizkondensatoren, groß wie Tankwagenkessel. Sie übertragen die Hitze des Turbinendampfs an das Wasser in den meterdicken Fernwärmerohren. Die leiten es aus dem Kraftwerkskeller Richtung Innenstadt.

Weil für die Fernwärme ein Teil des Dampfes abgezweigt wird, sinkt die elektrische Leistung der Turbinen um ein Sechstel. Aber: Die so gewonnene Wärmeleistung ist weitaus größer. Denn der Druck des Dampfes nimmt schneller ab als seine Temperatur. Wenn also die Kraft für den Turbinenschub schon deutlich nachgelassen hat, ist für das Fernwärmewasser allemal noch genug Hitze vorhanden. Nur der Rest, der nicht mehr heiß genug ist, wird wieder zu Wasser – und in den weithin sichtbaren Kühlturm gesprüht, aus dem er teils herunterregnet und teils nach oben hin verdunstet.

Bliebe noch die Frage nach dem Gips. Loeber geht nach draußen vors Kraftwerksgebäude. Der Schornstein steht aus gutem Grund nicht auf dem Kraftwerksdach, sondern mehrere hundert Meter entfernt. Auf dem Weg dazwischen werden die Abgase gereinigt: Erst wird Ammoniak hineingeblasen, der in einem Riesenkatalysator die giftigen Stickoxide in harmlosen Stickstoff und Wasser zerlegt. Im nächsten Schritt zieht ein Elektrofilter den feinen Staub aus dem Rauchgas. Und schließlich wird der Abgasstrom mit einer Kalksteinlösung besprüht. Unter dieser Dusche wird aus giftigem Schwefeldioxid nützlicher Gips. Ein halbes Dutzend Sattelschlepper schaffen ihn in eine Brandenburger Baustofffabrik, Tag für Tag. Immerhin eine Stelle, an der die Rauchgasreinigung nicht nur Geld kostet, sondern welches einbringt.

Wegen all dieses Aufwands frisst die Kraftwerksmaschinerie zwar etwa sechs Prozent ihrer erzeugten Leistung gleich wieder auf, aber zumindest geht nichts fast nichts verloren: Neben dem blechernen Gipslagergebäude stehen fünf Silos mit der Asche, die die verbrannte Kohle hinterlässt. Sie wird ebenfalls verkauft – und beispielsweise zu Straßenbelag verarbeitet.

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