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Zentrum der Macht. Täglich ist es Ziel unzähliger Touristen und selbst vom Wasser aus gesehen imposant: das „Band des Bundes“ mit dem Kanzleramt und seinen angrenzenden Bauten im Spreebogen.

© Paul-Langrock.de Agentur Zenit f

Alimentiert, aber sexy: Berlin ohne Hauptstadt

Es hätte auch anders kommen können. Was wäre aus Berlin geworden, wenn Parlament und Regierung in Bonn weitergemacht hätten? Die Stadt wäre ein lebendes Museum der Geschichte. Und noch mehr.

Extreme Reaktionen wären wohl die Folge gewesen. Hätte der Bundestag am 20. Juni 1991 für die Hauptstadt Bonn gestimmt – Eberhard Diepgen, Regierender Bürgermeister von Berlin und Inbegriff der Selbstkontrolle, wäre vermutlich verstummt, wahrscheinlich für Tage. Und sein Vertrauter Klaus Landowsky, damals Chef der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus? Er erwartete an jenem Abend mit vielen anderen im Schöneberger Rathaus, dem Sitz des Abgeordnetenhauses, die Entscheidung. Als er das Ergebnis hörte – 338 Stimmen für Berlin, 320 für Bonn, wischte er sich verlegen Freudentränen aus den Augen. Wenn es andersherum gekommen wäre – 338 Stimmen für Bonn, 320 für Berlin – hätte dieser Mann der Emotionen sicher Tränen der Enttäuschung zu bewältigen gehabt.

Und dann? Berlin war arm, ziemlich übergewichtig und ein wenig schizophren. Das Übergewicht an Behörden und Behördenmitarbeitern wäre gewiss erhalten geblieben. Und die institutionelle Schizophrenie? Zwei Universitäten, drei Opern, zwei Gemäldegalerien? Alles hatte in Teilungszeiten seine Daseinsberechtigung. Dabei wäre es geblieben, erst einmal. Die Universitäten mit den großen Namen, die Museen mit der großen Kunst von gestern und dem etwas kleineren Publikumsinteresse, die beleibten Behörden – das waren die institutionellen Voraussetzungen für den Sozialismus Berliner Art beidseits der Mauer gewesen, in dem Existenzsorgen die große Ausnahme und Arbeitslosigkeit ein politisch regulierbares Phänomen gewesen waren. Hätte der Bundestag am 20. Juni 1991 dreieinhalb Millionen Berliner und ein paar versprengte Hauptstadt-Umzugsfans im Rest der Republik enttäuscht – der postsozialistischen Wärmestube Berlin wären die Kohle-Rationen nicht so schnell gekürzt worden.

Kleine realpolitische Erinnerung: Berlin hatte schon 1990 Schulden, in Euro umgerechnet waren es fast zehn Milliarden. Die Schulden stiegen, politisch gewollt, ungebremst weiter – binnen zehn Jahren bis auf rund 37 Milliarden Euro im Jahr 2000. Daran war Bundesfinanzminister Theo Waigel nicht unschuldig. Er hatte den Berlinern mit Blick auf die verheißungsvolle Hauptstadtperspektive die Bundeshilfen gestrichen.

So rabiate Maßnahmen hatte Berlin seit dem Mauerbau nicht erlebt – und Waigel hätte sie der Stadt, wäre sie gerade ihrer großen Perspektive beraubt worden, kaum zugemutet. Also hätte sich Berlin ohne Hauptstadtperspektive um Hilfen des Bundes so wenig sorgen müssen wie in Teilungszeiten – mit Folgen für das Lebensgefühl. Das war in den noch hauptstadtfreien Zeiten ein spezielles. Die neunziger Jahre waren zwar keine Zeit der extrovertierten, großen Berlin-Gefühle – Berlin kam ärmlich und verrußt daher, heruntergekommen, interessant, kantig, aber nicht hip. Doch nach innen waren die frühen Neunziger eine gute Zeit für Grenzgänger und Entdecker, Leute, die Neues kennenlernen und in Angriff nehmen wollten: beidseits der Ost-West-Trennlinie. Berlin ohne Hauptstadt war und wäre viel länger geblieben: lebendes Museum der Geschichte, Stadt der Brachen und der leeren Häuser, Stadt der tausend Keller voller Musik und der unmüden Leute mit Bierflaschen in der Hand, Stadt der Stadtforscher und der Mentalitätsergründer, abseits des vor sich hin prosperierenden „Westdeutschland“.

Ost-West-Kontakte setzten Bekundungen der Vorurteilsfreiheit voraus. Die Stadt, die sich immer gern als „Labor“ verstand, hätte ohne Hauptstadtoption auf das Interessanteste mit sich zu tun gehabt: mit West- und Ost-Leben, mit dem Abtragen der gegenseitigen Vorurteile. Der Prozess wäre ohne die Mission Regierungssitz vielleicht noch intensiver abgelaufen, was das deutsch-deutsche Kennenlernen anbelangte – weil mehr Zeit gewesen wäre ohne den Druck der Hauptstadtplanung, der Behördenverkleinerung und des „Wir-werden-wieder-wer!“

Davon und dafür hätte Berlin nicht leben können. Die Perspektive Armenhaus der Republik war wohl erst mal unvermeidlich. Zusammengebrochene Großbetriebe im Ostteil (Narva, die Kabelwerke Oberspree), ein öffentlicher Dienst, der mindestens die Stasi-belasteten Mitarbeiter loswerden musste – das Gefühl jugendlicher Sexyness hätte sich so schnell nicht eingestellt.

Andererseits: Finanziell hat die Hauptstadtwerdung die Stadt Berlin nicht gerade saniert. Kurt Geppert hat für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) einige Untersuchungen der Berliner Finanzlage angestellt. Er sagt, dass nur 2,5 Prozent des Berliner Bruttoinlandsprodukts mit „Hauptstadt“ zu tun haben. In ganzen Zahlen liest sich der nüchterne Befund besser: 35 000 Arbeitsplätze hat der Bund mitgebracht, das macht alles in allem mit direkten und indirekten Effekten 1,1 Milliarden Euro für den Haushalt aus. Die hätte Berlin hauptstadtlos nicht gehabt. Hinzu kommt aber der Hauptstadt-Effekt, etwa auf Touristen – die Wirkung des Wortes, Assoziation mit Regierungssitz, Bedeutung, Kultur. Dieser Effekt sei, so Kurt Geppert, nicht zu kompensieren.

Das bedeutet im Gegenzug: Die große, teils schöne alte Stadt Berlin, von der Geschichte durch den Wolf gedreht und in ihrer Substanz angegriffen wie keine andere europäische Metropole, hätte ohne Hauptstadt ganz auf Kultur und Subkultur und Alimente setzen müssen: Als Studenten-Großstadt und Langzeitstudenten-Lieblingsort. Spielfeld für experimentelle Lebensentwürfe. Heimat der Aussteiger. Paradies der Fahrradfahrer – und der Organisatoren illegaler Autorennen auf leeren langen Straßen. Kult-Ort der Künstler – wegen der Kultur-Affinität der Stadtverwaltung, deren Abhängigkeit von Werbung in den großen Feuilletons und der großen, kalten, leeren Fabrikräume mit optimalem Lichteinfall. Labor populärer Langstrecken-Unterhalter auf Techno-Grundlage: hmp! hmp! hmp! Großraum preiswerten Lebens: Wo die Leute nicht viel verdienen, trinken viele „Sternburg“-Pils. Es gäbe ein paar Events weniger als in der Wirklichkeit. Das wäre nicht schlimm. Dass sich die Stadt nach Überwindung der Teilungsschmerzen ihres spröden Charmes wieder bewusst geworden wäre, ist sehr wahrscheinlich. Werner van Bebber

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