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Dieser Weg wird kein leichter sein. Steven Jahn beim Lauftraining im Wald.

© Kitty Kleist-Heinrich

Alles weg und dann ein neuer Traum: Das unwahrscheinliche Profi-Comeback des Fußballers Steven Jahn

Mit zwölf zog Steven Jahn ins Internat des 1. FC Union, spielte kurze Zeit als Profi, verlor den Anschluss, erkrankte, nahm 30 Kilo zu. Dann verließ ihn die Frau seines Lebens – und jetzt, mit 27, träumt er von einem Comeback.

Steven Jahn ist angespannt. Er steuert seinen weißen Audi A3 durch den Berliner Nachmittagsverkehr Richtung Alexanderplatz, von wo er Tickets für einen Bekannten abholen will. Ein Freundschaftsdienst und jetzt genau das Richtige, um Zeit zu überbrücken. Steven wartet auf einen Anruf aus Österreich, von dort operiert sein Berater, der versprochen hat, sich heute zu melden. Aber er meldet sich nicht. Kein Klingelton, keine Textnachricht. Nichts, was in diesem Moment einen gewaltigen Adrenalinschub verursachen würde. Das iPhone des 27 Jahre jungen Mannes liegt zwischen Fahrer- und Beifahrersitz und bleibt stumm. Scheiße.

„Fühlt sich ein bisschen an wie damals“, sagt er und stellt das Radio leiser. Bis 2010 war Steven Jahn Fußball-Profi und spielte für den 1. FC Union Berlin. Seine Bilanz: Sechs Einsätze in der dritten Liga. Nach dem Aufstieg gehörte er noch ein halbes Jahr zum Kader der Zweitliga-Mannschaft, durfte aber nicht spielen. Der Trainer war mit seiner Entwicklung nicht zufrieden. Steven verschlug es eine Saison lang zur TSG Neustrelitz und eine weitere zum Brandenburger SC Süd, beides fünfte Liga, bis er 2012 schwer erkrankte und seine Karriere beenden musste.

Danach arbeitete er für eine Boulevard-Zeitung als Sportreporter, wurde fett, wie er heute selbst sagt, 100 Kilo bei 1,74 Meter Körpergröße. Mit dem aktiven Sport glaubte er durch zu sein. „Am Anfang fühlte ich mich erleichtert. Kein Leistungsdruck, keine Erwartungen – großartig. Nur habe ich bald festgestellt, dass es im normalen Berufsleben ähnlich ist. Druck gibt es überall. Er äußert sich nur anders. Subtiler. Beim Fußball wird dir offen gesagt, wenn du etwas nicht richtig machst. Diese Ehrlichkeit hat mir später gefehlt.“

Steven Jahn, grüne Augen, runde, kindliche Gesichtszüge, braune, kurze Haare, oben länger, an den Seiten kurz, hat beschlossen, die Zeit zurückzudrehen. Er will wieder ein professioneller Fußballer sein. Am liebsten in den USA, dem Land, das ihn seit seiner frühesten Kindheit fasziniert, das er aus seinen Lieblings-Fernsehserien zu kennen glaubt, aber das er noch nie besucht hat. Gut, dass das Niveau der Profi-Ligen dort niedriger ist. Seine Chancen, es in Amerika noch einmal zu packen, sind in jedem Fall größer als in Deutschland.

Er weint und weint und kann nicht aufhören

Die Geschichte seines Comebackversuchs beginnt am Ostersonntag 2016 früh um neun. Fünf Wochen zuvor ist er mit seiner Freundin Sabrina in eine größere Wohnung gezogen. Ein Altbau im Stadtteil Köpenick. Vierter Stock, Dachgeschoss. Zwei Zimmer, kleiner Balkon. Ihre erste gemeinsame Wohnung haben sie komplett neu eingerichtet. Besonders stolz ist Steven auf den gigantischen Fernseher an der Wand, der per Kopfdruck das Wohnzimmer in einen Kinosaal verwandelt. Und auf die graue Eckcouch mit den schwarzen Kopfteilen. Drei Meter breit, 1,40 Meter tief.

Die beiden sind seit fünf Jahren ein Paar, und Steven ist kurz vor dem Umzug immer noch verliebt wie am ersten Tag. Sabrina nicht. Steven ahnt das. Seit Wochen reden sie nicht mehr wirklich miteinander. Der Umzugsstress, denkt Steven. Nach der Arbeit in der Redaktion fährt er täglich in die neue Wohnung. Sägt, schraubt, hämmert, putzt bis tief in die Nacht hinein.

Als die Wohnung fertig ist, ist er sicher, dass alles wieder gut wird. Dann kommt der Ostersonntag. Beide sitzen auf der großen Eckcouch, beide schauen zu Boden. Sabrina sagt: „Ich will das alles nicht mehr.“ Dann steht sie auf, zieht die Tür hinter sich zu und verschwindet. Für immer. Steven bekommt das alles, wie er später erzählt, nur noch vage mit. Ihre Worte haben ihn betäubt. Seine Arme und Beine kribbeln. Dann bahnen sich Tränen den Weg über sein Gesicht. Er weint und weint und kann nicht mehr aufhören.

Dieser Weg wird steinig und schwer. Steven Jahn im Spiel gegen den FC Stahl Brandenburg.
Dieser Weg wird steinig und schwer. Steven Jahn im Spiel gegen den FC Stahl Brandenburg.

© Robert Roeske

Eine halbe Stunde vergeht, vielleicht auch eine ganze, ehe er sich wieder fängt. Diese Stille. Entsetzlich. Sein Blick schweift rastlos durch den verlassenen Raum, ehe er bei einem Bild im Wandschrank hängen bleibt. Auf dem kleinen Foto, gerade 10 mal 20 Zentimeter groß, ist Steven im Trikot des 1. FC Union zu sehen. Damals noch mit raspelkurzen Haaren. Es ist eines dieser Porträtfotos, wie sie jeder Profi vor der Saison bekommt und im Laufe eines Jahres unzählige Male für Autogrammjäger unterschreiben muss. Steven blickt an sich hinunter, sieht seinen Bauch und die Oberschenkel. Was ist nur aus mir geworden, denkt er. Und steht auf. Läuft zu dem Bild hinüber, nimmt es aus der Halterung und streicht mit den Fingern über die Oberfläche.

Er spürt den feinen Staub, und auf einmal sind sie wieder da, die Szenen aus seinem früheren Leben, die so lange keine Rolle mehr gespielt haben und doch immer da waren im Unterbewusstsein. Vor seinem inneren Auge sieht er all die Jungen und Mädchen, wie sie am Trainingsplatz stehen, nur um Unterschriften von den Union-Spielern zu ergattern. Wie sie auch seinen Namen – „Stevi, Stevi“ – rufen, und er erinnert sich, wie geliebt, wie begehrt er sich in diesen Momenten gefühlt hat. Das möchte er wieder haben, wieder spüren, am besten für immer. Plötzlich ist es, als würden zwei Drähte in seinem Kopf einen Kurzschluss auslösen. Er geht ins Schlafzimmer, zieht sich Sportsachen über, die er eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr getragen hat, läuft das Treppenhaus hinunter, trabt los, die Straße entlang Richtung Wuhlheide. Bis dorthin sei er aber gar nicht gekommen, erzählt er ein paar Wochen später.

Die Gelenke schmerzen, die Muskeln brennen

20 Minuten, ein paar Straßen – mehr schafft er nicht an diesem ersten Tag. Die Gelenke schmerzen und die Muskeln brennen von der ungewohnten Belastung. Der Weg zurück in die Wohnung wird zur Qual. Treppe um Treppe hangelt sich Steven die vier Stockwerke hoch. Unter der Dusche fühlt er sich erschöpft, aber glücklich. So glücklich, wie man sein kann, wenn einen die Liebe seines Lebens gerade verlassen hat. Während das warme Wasser über seinen Kopf rinnt, beschließt Steven, auf ein Comeback hinzuarbeiten. Was hat er jetzt noch zu verlieren, wo die Frau, die er heiraten wollte, gerade auf Nimmerwiedersehen zur Tür hinaus verschwunden ist?

Steven beginnt zu trainieren, jeden Tag ein bisschen mehr. Er rennt Treppen hinauf und Berge, stemmt Gewichte, schwimmt, macht Liegestütze, Bauchmuskelübungen, springt, klettert – tut alles, was seinen Körper in Form bringt. Von jeder Einheit postet er eine Zusammenfassung auf seiner Facebook-Seite. Nach vier Wochen meldet sich ein alter Freund, der inzwischen Trainer draußen in Brandenburg ist. Steven nimmt das Angebot des Turn- und Sportvereins Sachsenhausen an. Sechste Liga, Amateurfußball nach Feierabend.

Allein dass Steven in dieser Spielklasse beginnt, zeigt: Was er vorhat, ist so unglaublich, so unrealistisch wie ein Meistertitel für Darmstadt 98. Aus den unzähligen Nachwuchsakademien werden junge, besser ausgebildete Talente in Serie auf den Markt gespuckt, wie Burger samt Fritten aus einem Drive-in-Schalter. Bei den Jugendmannschaften von Bayern München und Borussia Dortmund steht nicht mal jedem Jahrgangsbesten eine Profikarriere bevor. Dazu kommen noch all die arbeitslosen Spieler, die gestern noch regelmäßig Zweite und Dritte Liga gespielt haben und heute vergeblich auf eine Anstellung hoffen. Man muss sich nur das jährliche Sommercamp für vertragslose Fußballer anschauen, veranstaltet durch den Verband Deutscher Vertragsfußballer. Rund 50 Spieler, alles gestandene Profis, kamen 2016 in Duisburg zusammen. Wer soll da einen nehmen, der eine Ewigkeit nicht mehr gespielt hat? Angesprochen auf Steven Jahn meint ein szenekundiger Talentspäher: „Was der vorhat, ist pure Fantasie.“

Lesen Sie den ganzen Text am 7. Januar 2017 in der gedruckten Tagesspiegel-Beilage Mehr Berlin oder im Online-Kiosk Blendle.

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