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Berlin: Als die Opposition den Glauben an Rot-Rot verlor

CDU, FDP, Grüne – keiner hatte damit gerechnet, dass der Wahltag Klaus Wowereit so stark beschädigen würde

Manche Nachmittage bringen einen ganz erstaunlichen politischen Erkenntnisgewinn. Für die Grünen-Fraktionschefin Franziska Eichstädt-Bohlig war der gestrige Donnerstag so ein Tag. Bis, sagen wir 15 Uhr, hatte sie die Haltbarkeit von Rot-Rot II auf fünf Jahre veranschlagt. Dann fehlten dem rot-roten Vormann Klaus Wowereit zwei Stimmen – und der Grünen-Politikerin kam binnen Sekunden der Glaube abhanden, dass die SPD-PDS-Koalition routiniert über die Runden kommen wird.

Prognosen wollte die Grünen-Politikerin aber nicht abgeben – so wenig wie ihre Kollegen von den anderen Oppositionsparteien. Zu verblüfft waren alle über diesen ersten Wahlgang. Weder Eichstädt-Bohlig noch ihr grüner Mit-Fraktionschef Volker Ratzmann, noch CDU- Vormann Friedbert Pflüger oder der Liberalen-Fraktionschef Martin Lindner hatten vor dem ersten Wahlgang düstere Voraussagen über irgendwelche Heckenschützen gewagt.

Entsprechend waren ihre Reden ausgefallen: Die Grünen-Chefin wie eine zornige Lehrerin über den faulen Schüler Klaus herfallend, der sich bloß alimentieren lassen, aber die großen Aufgaben nicht anpacken wolle. Pflüger schon mit dem Hinweis auf die äußerst knappe Mehrheit für Rot-Rot in Anbetracht großer Probleme. Am subtilsten – ja doch, das kann er durchaus – Lindner mit einer freundlich-spöttelnden Rede auf einen Wowereit, der in vielerlei Hinsicht unter seinen Möglichkeiten geblieben sei mit diesem Koalitionsvertrag.

Dass all diese Vorwürfe bei zwei Abgeordneten der SPD und oder der PDS mit einem sehr stillen, introvertierten Nicken kommentiert worden sind, fiel zu diesem Zeitpunkt keinem auf. Dann unterbrach Parlamentspräsident Walter Momper die Sitzung. Pflüger, Lindner, Eichstädt-Bohlig und Ratzmann gaben in zahllosen Gesprächen in der Lobby vor dem Plenarsaal ihrem Erstaunen Ausdruck. Die CDU-Abgeordneten gingen die breite Steintreppe in den dritten Stock hinauf zu ihrem Fraktionssaal. CDU-Landeschef Ingo Schmitt kam mit seinem Bundestagskollegen Karl-Georg Wellmann dazu, beide konnten sich ein Grinsen kaum verkneifen. Fraktionsvize Michael Braun schimpfte auf Momper und auf Hartmann von der Aue, den Gatten der neuen Justizsenatorin: Braun glaubte, Momper habe das Ergebnis einfach durchwinken wollen und Parlaments-Direktor von der Aue habe mitgemacht. Er habe Momper erst über das Problem des ersten Abstimmungsergebnisses informiert, als er sah, dass der CDU- Mann Goetze unterwegs war, um das Ergebnis anzufechten.

Böse Worte, aber die Gefühle liefen bei vielen heiß in dieser einen Stunde, in der keiner wusste, wie dieser Nachmittag enden würde. Lindner hatte erkennbar Spaß an der Lage. Das Kinn vorgeschoben, die Fäuste geballt, empörte auch er sich über Momper. Eichstädt-Bohlig war so nachhaltig erstaunt über den Schlag gegen Wowereit, dass sie gar nicht sagen konnte, was sie nun erwartete. Sie sei sich ziemlich sicher, dass Wowereit in den vergangenen Wochen so etwas wie einen „Realitätsverlust“ erlitten habe, meinte die Grünen-Politikerin. Deshalb erahne sie nicht, ob der nun doch noch nicht gewählte Regierende sich womöglich auf die Suche nach neuen, stabileren Mehrheiten machen müsse.

Pflüger war ähnlich verwundert. „Ich habe keine Ahnung, was die machen“, sagte er kurz vor Beginn des zweiten Wahlgangs. Am besten lag noch Lindner: „Die wählen den“, sagte er, die Zähne zusammengebissen. Dann füllte sich der Plenarsaal wieder langsam, man stand zusammen und wartete auf den Sitzungsbeginn. Lindner und Pflüger sprachen kurz mit dem Grünen-Duo. Sie werden beraten haben, ob sie versuchen sollten, etwas gegen Mompers Sitzungsleitung zu tun. Doch keiner sagte etwas, als Momper die Sitzung wieder eröffnete. Nun auch noch den SPD-Sitzungsleiter anzugreifen – das hätte das rot-rote Zusammengehörigkeitsgefühl unnötig gestärkt. Da wussten die Oppositionellen noch nicht, dass die Koalition schon wieder einigermaßen funktioniert.

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