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'Alternative': Grün liegt nicht nur den Szene-Kiezen

Die früheren Alternativen werden mehrheitsfähig – nicht nur in den Szene-Kiezen, sondern auch am gutbürgerlichen Stadtrand. Die Grünen etablieren sich.

Von Sabine Beikler

Das Kaminstudio am Botanischen Garten liegt nicht weit weg vom Asternplatz in Lichterfelde. „Wärme und Gemütlichkeit bringt ein Kamin zu jeder Zeit“ steht auf einem Schild über dem Laden an der Enzianstraße. Wärme und Gemütlichkeit strahlen auch die Gegend bis zum S-Bahnhof Botanischer Garten und die Moltkestraße weiter bis zum Gardeschützenweg aus. Stolz tragen hier herrschaftliche Gründerzeitvillen geranienbepflanzte Balkone mit sauberen Markisen vor sich her, und auf den Pinselstrich genau sind die Ornamente der Jugendstilfassaden saniert. Die Herbathek bietet Vitalpilze an, bei „Kunst und Krempel“ können Kinder für 20 Cent auf einem alten Karussellpferd schaukeln, in der Familienbäckerei gibt es Pflaumenkuchen und Nuss-Striezel im Angebot. Eine „grüne Oase in der Großstadt“ – so bewirbt die Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft ihre Wohnanlage am Asternplatz. Und in dieser „grünen Oase“ in Steglitz-Zehlendorf gibt es immer mehr grüne Wähler.

Hier im Wahlkreis Schloßstraße/Grunewaldstraße, rund um Lauenburger Platz, Breitenbach- und Asternplatz, gewannen die Grünen mit 28,9 Prozent bei der Europawahl vor der CDU (27,8 Prozent). Berlinweit ging die Partei mit 23,6 Prozent knapp hinter der CDU als zweitstärkste Partei hervor. Vom Süden über Steglitz, Schöneberg, Charlottenburg, Nord-Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg – gemessen an der Wählergunst ist die Innenstadt eine grüne Insel. Laut einer aktuellen Umfrage von Infratest Dimap würden die Grünen jetzt sogar bei Abgeordnetenhauswahlen 20 Prozent erhalten und so hinter SPD (25 Prozent) und CDU (23) drittstärkste Kraft sein. Die Partei ist in den letzten Jahren auch für den bürgerlichen Mittelstand interessanter geworden. Wie kommt das? Was erwarten Wähler aus der Mittelschicht von einer Partei, die sich in den vergangenen 30 Jahren in Berlin von einer alternativen Sponti- zu einer Großstadtpartei gewandelt hat?

Die Historikerin Regina Fuhrmann wohnt im Südwesten. Ehrenamtlich arbeitet die 39-Jährige bei den Maltesern. Ihr ist die Toleranz gegenüber anderen Kulturen wichtig – das würden die Grünen ausstrahlen: „Die Partei bietet Platz für Außenseiter.“ Sie sei zudem offen für neue Initiativen, für jüngere Menschen, für neue Medien und für die kreative Szene, die stärker gefördert werden müsse.

„Irgendwie“, sagt Susanne Kotting, „sind die Grünen authentischer und emotionaler als andere Parteien.“ Aufgewachsen in der DDR, hat die 38-Jährige nach der Wende noch PDS gewählt, später die SPD. CDU und FDP seien für sie „aus Prinzip“ nie infrage gekommen. Doch „Vetternwirtschaft und Klüngeleien“ in der Berliner SPD habe sie nicht mehr unterstützen wollen und wähle deshalb seit vielen Jahren grün, sagt sie. Die Personalsachbearbeiterin wohnt mit Mann und Tochter in Lichterfelde. Das Wohnumfeld, die Erhaltung der Grünflächen und die Sauberkeit seien ihr wichtig. „Umweltschutz, Familienfreundlichkeit und Antikriegspolitik: Deshalb wähle ich die Grünen.“ Ihre Tochter, die zweijährige Winnifred, geht in die Kindertagesstätte St. Annen der katholischen Kirchengemeinde Heilige Familie. Auch wenn Frau Kotting Atheistin ist, wie sie betont, seien ihr Wertevermittlung und Offenheit für andere Glaubensrichtungen wichtig.

Offenheit, Selbstentfaltung, Wahrung demokratischer Freiheitsrechte – das sind typische Werte für Grünen-Wähler. Der Politologe und Parteienforscher Richard Stöss von der Freien Universität spricht von ihrer „libertären Werteorientierung“. Im Laufe der Zeit aber schälten sich zwei Wählermilieus bei den Grünen heraus: Zum einen skizzieren Politologen das „links-libertäre Bürgertum“, das Wert legt auf soziale Gerechtigkeit, kiezorientiert ist, eher in Kreuzberg oder in Teilen von Schöneberg wohnt und durchaus „rebellisch“ sein kann. Ziviler Ungehorsam als Meinungsäußerung wie beim Mediaspree-Projekt wird befürwortet. Und in den letzten Jahren habe sich das „neue libertäre Bildungsbürgertum“ herausgebildet – überwiegend in Stadtteilen wie Charlottenburg-Wilmersdorf, Prenzlauer Berg und Steglitz-Zehlendorf: Grünen- Wähler, die erfolgsorientiert leben, Wert auf eine hohe Lebensqualität legen und durchaus Tendenzen zum Hedonismus haben.

Zwar sind beiden grünen Milieus der Umweltschutz, gesunde Lebensführung, eine positive Grundhaltung zu einer multikulturellen Gesellschaft und Selbstbestimmung gemein. Viele „neue“ Wähler aus dem Bildungsbürgertum aber sind selbstständig und haben Arbeitslosigkeit selbst erlebt. Ihnen ist soziale Gerechtigkeit wichtig – sie legen aber zunehmend Wert auf eine gute Wirtschaftspolitik. Die grüne Leitlinie „Green New Deal“, sagt Stöss, verbinde Wirtschaftspolitik mit ökologischen Leitlinien; genau das unterstütze die neue Wählerschicht, die die Grünen nicht nur als „Öko-Partei“ sieht.

Dabei sind die Parteianhänger programmatisch fixiert: Rund 70 Prozent zählen sich zu den „Realos“, 13 Prozent zu den „Fundis“. Der Grünen-Wähler wägt politische Entscheidungen sehr genau ab. Ein Beispiel: Trotz ihrer unter der rot-grünen Bundesregierung parteiintern umstrittenen, doch mehrheitlichen Zustimmung zu Nato-Einsätzen im Kosovo oder dem Befürworten von zivilen Bundeswehreinsätzen in Afghanistan stehen die Grünen für „verantwortungsvolle Friedenspolitik“, sagt ein Filmemacher und Grünen-Wähler, der seinen Namen öffentlich nicht nennen möchte.

Und für diejenigen, die aus Überzeugung zu den Fundis zählen, haben die Grünen mit dem Parteilinken Christian Ströbele ihre Galionsfigur. Im Graefe- Kiez rund um Grimm- und Urbanstraße hat der Direktkandidat in Friedrichshain-Kreuzberg quasi „Heimspiel“: Dort holte die Partei bei der Europawahl mit 52,4 Prozent in Berlin ihr bestes Ergebnis.

Hier gehen Frauen und Männer mit ihren Kindern „auf die Grimm“, einen großen Spielplatz auf der Mittelinsel. Im Sommer sitzen Anwohner draußen in den vielen Restaurants und Cafés – ein mediterranes Flair, zu dem idealerweise der alteingesessene italienische Eisladen „Isabel“ an der Ecke Böckhstraße/Grimmstraße passt. Geduldig stehen die Kunden in Schlangen bis zur Straße an, Kinder flitzen hinter die Ladentheke, draußen sitzen die Leute auf um die Bäume aufgebauten Sitzbänken und schlecken ihr Eis.

Vor zehn bis 15 Jahren stand der Graefekiez kurz vor dem sozialen Abrutschen. Dann begannen umfangreiche Altbau-Sanierungen, die Mieten stiegen, und „grüne Mittelstandsleute“ zogen hierher, wie ein langjähriger Anwohner erzählt. Auch in Kreuzberg durchmischen sich inzwischen die beiden grünen Wählerschichten. „Das ist hier der Zehlendorfer Kiez in Kreuzberg“, sagt Texterin Miriam Rauh. Die alleinerziehende Mutter, 35, ist „überzeugte Atomkraftgegnerin“ und erwartet von den Grünen eine gute Sozial- und Umweltpolitik. Sie sollen sich einsetzen gegen Mietsteigerungen, für die Erhaltung der Grünflächen und eine kinderfreundliche Politik.

20 Prozent würde die Partei zurzeit in Berlin also laut Umfrage holen. Um ihre Stimmengewinne in der bürgerlichen Mittelschicht zu halten und auszubauen, ist sie jetzt gefordert. Der „grüne Mittelstand“, sagt der Politologe Stöss, sei kompromissfähiger als die linksorientierteren Wähler. Und er erwartet langfristig Verhandlungsbereitschaft für Regierungskoalitionen ohne ideologische Scheuklappen. „Ich wähle die Grünen doch nicht, damit sie dauernd in der Opposition bleiben. Mitregieren und politisch gestalten gehört dazu“, sagt Susanne Kotting aus Steglitz-Zehlendorf, dem ersten Berliner Bezirk mit einer schwarz-grünen Zählgemeinschaft.

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