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Berlin: Altkanzler zu Besuch: Die Schmidt-Schnauze zieht noch immer

Mit so einhellig respektvollem Beifall wurde Helmut Schmidt früher nicht von seinen Genossen empfangen. Auf seinen Stock gestützt, winkt er ab, als wollte er schroff sagen: Schon gut, ich bin kein Mythos.

Mit so einhellig respektvollem Beifall wurde Helmut Schmidt früher nicht von seinen Genossen empfangen. Auf seinen Stock gestützt, winkt er ab, als wollte er schroff sagen: Schon gut, ich bin kein Mythos. Im Willy-Brandt-Haus blickt er Mittwochabend in gut 100 erwartungsvolle Gesichter. Es ist das erste Neumitglieder-Treffen der Aktion "Welcome", die junge Leute der SPD Mitte für junge Leute ins Leben gerufen haben. Prominenz ist nicht gefragt. Nur Ralf Wieland, der Kreisvorsitzende und Landesgeschäftsführer, ist da. Er verzieht sich als Beobachter nach hinten.

Gelassen lässt Schmidt ehrfürchtige Begrüßungsansprachen über sich ergehen. Das unter Genossen übliche Du unterbleibt. "Er war auch einmal Neumitglied wie wir", sagt Maria Kersten (21) auf dem Podium. Damit ist klar, was man vom Altkanzler, Berliner Ehrenbürger und Mitherausgeber der Wochenzeitung "Zeit" wissen will: Wer sich damals um ihn gekümmert habe und wie er die Hemmschwellen überwunden habe. Schmidt drückt die mittlerweile zweite Zigarette aus, schnäuzt sich und erklärt erst einmal nüchtern, er habe vielleicht Interessantes zu erzählen, "aber Sie können keinen Honig daraus saugen. Die Lebensumstände von damals und heute sind überhaupt nicht vergleichbar." Niemand brauchte sich um ihn zu kümmern: "Ich habe mich gekümmert". 1945/46 war das, als man bei Null anfing und einfach helfen wollte: "Heute haben Parteien ja für alles Agenturen." Protest wird laut. "Na, Ihr seid in Ordnung", meint er väterlich nachsichtig.

Er erzählt von seiner "kurzen Jugend", Erlebnissen in der Nazi-Zeit, als Soldat und den Nöten nach dem Krieg. Alles hängt an seinen Lippen, man könnte eine Stecknadel fallen hören. Er war einmal Schmidt-Schnauze; nun ist er für seine Zuhörer lebendige Geschichte. Dann steckt er sich die dritte Zigarette an und bittet um Fragen. "Traut Euch!", ruft Oliver Carlo Klein, der Beauftragte des Kreisvorstandes für die Betreuung der Neuen.

Die Fragen reichen vom unbeholfenen: "Wann haben Sie geheiratet?" bis zur Lage im Kongo. Geduldig gibt er Auskunft: "Wenn der liebe Gott will, feiern wir nächstes Jahr Diamantene Hochzeit." 60 Jahre mit Loki sind es dann. Wie er sich seine Ideale erhalten konnte in der Nazizeit, will jemand wissen. Wieder eine nüchterne Antwort: "Ich hatte da noch kein eigenes politisches Weltbild." Na ja, der jüdische Großvater und ein paar deprimierende Erlebnisse haben ihn vor Indoktrination bewahrt.

Die Fragen versteht er kaum: "Bitte um Nachsicht, ich bin 83, meine Ohren sind schon 93." Doch jede Antwort fesselt durch Tiefgang und ist mit goldenen Grundregeln für Junggenossen gespickt. Die wollen wissen, ob Basisarbeit begeistern kann und ob man mit zu viel Engagement als Karteileiche endet. "Dürfen darf jeder, müssen muss keiner", doziert er schmunzelnd. Langsam taut er auf und verbindet Ernst mit Scherz: "Ich bin prinzipiell skeptisch gegen das Wort Begeisterung, gilt auch für Fußball." Verstand und Überzeugungen sind ihm wichtig.

Dann ist er beim "heute mit Abstand wichtigsten Problem, der Arbeitslosigkeit. Großer Applaus, als er sagt: "Ich traue den Sozis zu, das zu lösen, mehr als den Mannen von Frau Merkel. Eine redliche Frau, aber sie kann es nicht." Doch sofort dämpft er den Jubel mit einem Klaps für den Kanzler: "Wie weit das Gerhard Schröder kann, muss sich noch zeigen." Mit "ABM und solchen Krücken" schaffe man kaum Arbeitsplätze: "Die Privatwirtschaft braucht Mut und Befreiung von tausend Vorschriften."

Nach zweieinhalb Stunden können alle mit einem Sack rationaler Ratschläge von dannen ziehen: Viel lesen, die Geschichte einigermaßen im Kopf haben, sich zum eigenen Urteil und damit zur Tolerenz und zum Kompromiss befähigen, ohne die es in der Demokratie nicht geht.

Er findet es "fahrlässig, sich zu engagieren, ohne zu wissen, wovon man redet". Und er hält die Idealisierung der Demokratie für Tinnef: "Demokratie ist Menschenwerk." Ein paar Autogramme gibt Helmut Schmitt noch, bevor er mit den Initiatoren des Abends zum Plausch im Nebenzimmer verschwindet. Er kümmert sich eben heute noch.

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