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Berlin: Antoine Verbij (Geb. 1951)

Auf seinem Gazelle-Fahrrad kreuzte der Holländer durch die Stadt

Er war Wahlberliner, und das zählt doch sowieso viel mehr als der Geburtsort. In einem katholischen Dorf Boskoop in Südholland kam er zur Welt, sein Vater war Azaleenzüchter. Zuerst wollte er Papst werden. Stattdessen wurde er zu einem der wichtigsten marxistischen Publizisten der Niederlande.

Was in Deutschland die Proteste von 1968, das waren in den Niederlanden die Tage der Besetzung des „Maagdenhuis“ 1969. In diesem Jahr zog Antoine nach Amsterdam, wurde Marxist und Teil der Studentenbewegung.

Er studierte Philosophie und Psychologie, er wollte in der Praxis wirken, nicht nur in der Theorie, aber auch nicht als Hausbesetzer. Er eignete sich das Denken der neu- und postmarxistischen Philosophen an und gründete die Zeitschrift „Psychologie und Gesellschaft“.

Antoine hat nicht nur viel diskutiert, sondern auch viel gefeiert und getrunken. So kam er auf die Idee, dass Sport nicht schaden könnte und entschied sich für einen Fußballverein. Er war der Torwart, der sich, wenn er nicht genug gefordert war, einen Joint anzündete.

Der Wunsch, nach dem Fall der Mauer nach Berlin zu ziehen, stand vor jeder Überlegung, was er hier überhaupt tun könnte. Mit seiner Frau zog er in den Friedrichshain. Und begann als Journalist zu arbeiten, ein völlig neues Metier. Statt in der Studierstube am Schreibtisch zu sitzen, musste er als Korrespondent für die christlich-liberale Zeitung „Trouw“ und die linksliberale „De Groene Amsterdammer“ zu Pressekonferenzen und auf die Straße, Leute befragen. Der Holländer kreuzte auf seinem Gazelle-Fahrrad durch die Stadt. Er berichtete über den NSU, Angela Merkel, über die Finanz- und Wirtschaftskrise und Pegida, über das deutsche Bildungssystem.

Und immerzu natürlich über Berlin. Etiketten wie „Arm, aber sexy“ sagten ihm nicht viel. Er blickte tiefer aber mit Milde auf die Schwächen der Stadt, ob nun auf die Armut, die Bauskandale oder die Wohnungsnot. Außerdem war er ein Kenner der russischen Literatur wie überhaupt der ganzen literarischen Einflüsse aus dem Osten. Für niederländische Verlage schrieb er literarische Gutachten. So entdeckte er viele Schriftsteller für die Niederlande, zum Beispiel die Polin Olga Tokarczuk oder den Russen Michail Schischkin.

Zu seinen literarischen Lieblingen, die er über Jahre förderte, gehörten Uwe Tellkamp, Juli Zeh, Ilija Trojanow und Elfriede Jelinek. Mit ihnen stand er in langer E-Mail-Korrespondenz. Und interessierte sich immer auch für die Populärkultur, schrieb übers deutsche Fernsehen, den „Tatort“, das „Musikantenstadl“ und das „Mittagsmagazin“.

Seinen Prinzipien blieb er treu, er brauchte dafür keinen roten Stern auf der Mütze. Er war links, nicht radikal, doch schrieb er kenntnisreich über Linksradikale in den Niederlanden und in Deutschland. Sein Buch „Zehn rote Jahre“ ist ein Standardwerk. Im „Manifest für die 70er Jahre“ trat er für Toleranz und Liberalität ein. Gerade dieses viel geschmähte Jahrzehnt, fand er, hat die Niederlande so freizügig und zivilisiert gemacht, wie man sie heute in der Welt kennt.

An seinen 60. Geburtstag auf einem Bauernhof bei Kyritz hielt er eine Rede. Indem er über anwesende Freunde sprach, widmete er sich den Kapiteln seines Lebens. Am engsten war er natürlich seiner Frau verbunden, ebenfalls Publizistin. Sein Chefredakteur hat die beiden getraut, da in den Niederlanden jeder vorübergehend Standesbeamter sein kann.

An einem Morgen im Oktober hatte Antoine einen Termin in Lichtenberg, war zu früh dort und wartete auf einer Bank, als ihn der Herzanfall ereilte. Davor hatte er noch sorgfältig sein Fahrrad abgeschlossen. Schlafend in den Armen seiner geliebten Frau verabschiedete er sich aus dem Leben. So hatte er sich seinen Tod gewünscht, aus dem prallen Leben, plötzlich und doch sanft davonzuschleichen. Auf dem Georgen-Parochial-Friedhof in seiner Wahlheimat Berlin wurde er begraben.

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