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Blick auf die Roben der Richter beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

© DPA

Klage in Karlsruhe: Arm gerechnet?

Seit der Volkszählung 2011 müssen viele Städte und Gemeinden mit weniger Geld auskommen. Berlin und Hamburg haben die Riesen-Statistik vors Bundesverfassungsgericht gebracht - mit unabsehbaren Folgen.

Dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Volkszählungsurteil von 1983 hat es das Bundesverfassungsgericht erneut mit dem Zensus zu tun. An diesem Dienstag wird in Karlsruhe verhandelt. Den Klägern geht es diesmal nicht um Datenschutz, sondern um Millionensummen. Die wichtigsten Fragen zum Prozess im Überblick.

Worum dreht sich das Verfahren?

2011 findet zum ersten Mal eine EU-weite Volkszählung statt. In Deutschland hat es seit der Wiedervereinigung keinen Zensus gegeben. Bei der letzten Volkszählung in der BRD 1987 schwärmten noch an die 600 000 Interviewer aus, um jeden Bürger persönlich zu befragen. Nun soll es mit weniger Aufwand gehen - mit der registergestützten Methode. Das bedeutet: Die Statistiker fangen nicht bei Null an, sondern machen sich Daten zunutze, die es schon gibt, zum Beispiel bei den Einwohnermeldeämtern oder der Bundesagentur für Arbeit. Neu befragt werden muss so nur ein kleinerer Teil der Bevölkerung, um Wissenslücken zu schließen und Unstimmigkeiten aufzuspüren.

Was gibt es dagegen einzuwenden?

Den Aufschrei gibt es erst, als 2013 die Ergebnisse vorgestellt werden. Denn die seit mehr als zwei Jahrzehnten fortgeschriebenen Einwohnerzahlen haben mit der Wirklichkeit teils nicht mehr so viel gemein. Zum Stichtag, dem 9. Mai 2011, leben in Deutschland deutlich weniger Menschen als angenommen, rund 80,2 statt knapp 81,8 Millionen. Die neuen Zahlen lassen viele Städte und Gemeinden über Nacht zusammenschrumpfen. Berlin verliert mit einem Schlag rund 180 000 Einwohner, Hamburg wird um gut 82 800 Menschen kleiner.

Warum sorgt das für Widerstand?

Einwohnerzahlen sind keine Größe auf dem Papier. Sie entscheiden über den Zuschnitt von Wahlkreisen, die Stimmen im Bundesrat - und übers Geld. Hunderte Städte und Gemeinden legen gegen die Zensus-Ergebnisse Widerspruch ein oder klagen vor den Verwaltungsgerichten, weil sie Nachteile im kommunalen Finanzausgleich befürchten. Die Stadtstaaten trifft es beim Länderfinanzausgleich: Berlin verzeichnet strukturelle Mindereinnahmen von rund 470 Millionen Euro im Jahr. Hamburg büßt im Moment jedes Jahr 44 Millionen Euro an Umsatzsteuer ein und muss 73 Millionen Euro mehr in den Verteiltopf stecken. Ihre letzte Hoffnung heißt Karlsruhe: Womöglich lassen sich dort die Uhren zurückdrehen.

Wie soll das gelingen?

An einer Totalerhebung wie 1987 gäbe es nicht viel zu deuteln. Aber ist das neue Stichproben-Verfahren, für das nur jeder Zehnte befragt wurde, genauso präzise? Die Kläger bezweifeln das. Außerdem sehen sich die Millionenstädte von den Statistikern benachteiligt. Denn aus methodischen Gründen haben diese abweichende Daten in großen und kleinen Gemeinden mit zwei unterschiedlichen Verfahren bereinigt. Einen ersten Erfolg gibt es: Seit 2015 verhindern die Verfassungsrichter die nach spätestens vier Jahren vorgeschriebene Löschung der Zensus-Daten. Alles soll nachprüfbar bleiben.

Wie geht es weiter?

Das Karlsruher Urteil ist erst in einigen Monaten zu erwarten. Bis dahin ruhen laut Statistischem Bundesamt auch die rund 340 Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, die dort bekannt sind.

Was, wenn die Verfassungsrichter die Zensus-Gesetze beanstanden?

Darüber lässt sich nur spekulieren. Wären Korrekturen möglich? Oder fällt schlimmstenfalls das ganze Datengebäude in sich zusammen? Was für finanzielle Folgen hätte das? Das zuständige Innenministerium will sich dazu im laufenden Verfahren nicht äußern. In jedem Fall dürfte das Urteil die Politik noch einige Jahre beschäftigen. 2021, nach zehn Jahren, steht der nächste Zensus an. Die Vorbereitungen laufen längst - nach derselben Methode. Für die Zeit danach „werden derzeit Überlegungen angestellt, wie der Zensus der Zukunft nach 2021 stärker auf Register zugreifen kann“, wie das Ministerium auf Anfrage mitteilt. Das Urteil werde auch hier zu berücksichtigen sein. (dpa)

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