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Auf Crashkurs: Wie kann man den Stadtverkehr sicherer machen?

Alle vier Minuten kracht es auf Berliner Straßen, einmal pro Woche stirbt ein Mensch –  höchste Zeit, dass dieser Alltag als Skandal erkannt wird.

Mitternacht, ein neuer Durchschnittstag für die Berliner Unfallstatistik beginnt. Die meisten der rund 700 Menschen, die heute in einen Verkehrsunfall verwickelt sein werden, schlafen noch friedlich in ihren Betten. Unter ihnen sind 40, für die der Unfall mit einem blauen Fleck, einem verstauchten Knie oder einer Schnittwunde enden wird. Und fünf, die die nächsten Nächte nicht im heimischen Bett verbringen werden, sondern im Krankenhaus. Bewusstlos, mit zertrümmerten Knochen, vielleicht querschnittsgelähmt. Unter den Verletzten werden mindestens zwei Kinder sein. Etwa einmal pro Woche gibt es außerdem einen Toten. Einer von 600 übrigens, die im Laufe einer gewöhnlichen Woche auf den Straßen eines EU-Staates sterben, 70 davon in Deutschland. Das sind fast vier Mal so viele, wie an illegalen Drogen sterben. Und im Unterschied zu jenen haben die Verkehrsopfer nicht die leiseste Ahnung von ihrem Schicksal.

Die Toten schaffen es wahrscheinlich in die Nachrichten. Direkt vors Wetter, sofern es nicht ungewöhnlich viele auf einmal waren. Aber bestimmt nicht vor die interessanteren Gefahren, denen sich die Öffentlichkeit lieber widmet: Keimen im Essen, Lecks in Kreuzfahrtschiffen, Wölfen in der Lausitz. Verkehrsopfer sind langweilig, weil so normal.

Seit Jahren schon arbeiten die Mitgliedsstaaten der EU – mit sehr unterschiedlichem Ehrgeiz – an „Vision Zero“, also: null Tote. Die Idee, dass ein Fehler nicht mehr tödlich sein darf, stammt aus dem Arbeitsschutz. Dort gilt sie längst als selbstverständlich. Im Straßenverkehr ist sie gerade in noch weitere Ferne gerückt: Die Zahl der Verkehrstoten auf den Berliner Straßen ist im vergangenen Jahr von zuvor 44 auf 54 gestiegen. Außerdem wurden ungefähr 17 000 Menschen verletzt. Das entspricht der kompletten Einwohnerzahl von Berlin-Friedrichshagen mit seinen elf Kitas, vier Schulen und 13 Zahnärzten.

Ein Blick zehn Jahre zurück zeigt, was sich getan hat – und was nicht: Von den 65 Berliner Verkehrstoten des Jahres 2001 waren 18 in Autos gestorben. Unter den 54 Toten des vergangenen Jahres starben nur drei im Auto. Die Fahrzeuge sind robuster geworden, aber die anderen Verkehrsteilnehmer nicht. Man sollte meinen, dass alles getan wird, um sie zu schützen. So, wie die BVG nach dem Brand in einem U-Bahnhof für sämtliche Stationen einen zweiten Ausgang nachgerüstet hat und die S-Bahn nach einem Unfall die Räder an 500 Doppelwagen erneuern ließ. Niemand hat die fast dreistelligen Millionenbeträge infrage gestellt, die dafür fällig wurden, obwohl bei keinem der Vorfälle ein Mensch gestorben war. Wenn es jedoch um die Abwehr strengerer, unzweifelhaft lebensrettender Tempolimits geht, steht die Protestfront.

Doch Verkehrssicherheit in der Stadt ist viel mehr als Tempo 30, um das so erbittert gestritten wird. Dabei gibt es Möglichkeiten, um die Gefahrenquelle Auto zu entschärfen und die Folgen von Fehlern aller Verkehrsteilnehmer zu lindern. Denn jeder Unfall beginnt mit einem Fehler – egal, ob der gerade in Gestalt von Eile, Gedankenlosigkeit oder Unaufmerksamkeit daherkommt. Wie konsequent die Gefahr ignoriert wird, lässt sich zu jeder Zeit an jeder Ecke besichtigen: Autofahrer geben bei Dunkelgelb Gas, Radler mit Musik auf dem Kopfhörer schauen weder links noch rechts, Fußgänger haben nur den Bus im Auge, den sie noch schnell erreichen wollen.

In einer Stadt wie Berlin wird „Vision Zero“ eine Vision bleiben. Aber das Ziel ist es wert. Denn Unfallopfer, das sind nur scheinbar immer die anderen.

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