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Berlin: Aufklärung durch Pornofilme Arche-Kinder sprechen über sexuelle Erfahrung

Pfarrer Bernd Siggelkow nennt es „sexuelle Verwahrlosung“. Betroffen sind nicht nur Erwachsene, sondern Mädchen und Jungen, die manchmal noch in die Grundschule gehen.

Pfarrer Bernd Siggelkow nennt es „sexuelle Verwahrlosung“. Betroffen sind nicht nur Erwachsene, sondern Mädchen und Jungen, die manchmal noch in die Grundschule gehen. Der Begründer und Leiter des Kinderhilfsprojekts „Die Arche“ in Hellersdorf hat mit 80 Jugendlichen im Alter zwischen 11 und 18 Jahren über ihre sexuellen Erfahrungen gesprochen.

Die Gespräche mit den Jugendlichen werden im kommenden September als Buch erscheinen, in Form von persönlichen, anonymisierten Geschichten. Viele der befragten Jungen und Mädchen kennt Siggelkow seit Jahren, weil sie in der Arche betreut werden. Dort treffen sich vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien. Etliche der befragten Jugendlichen kommen aber aus anderen sozialen Schichten, sagt Siggelkow. Was ihm die Jugendlichen erzählt haben, sei deshalb nicht nur ein Phänomen der Unterschicht.

So war es bei den Befragten zum Beispiel nicht der Sexualkundeunterricht in der Schule, über den sie aufgeklärt wurden. Es waren Pornofilme, die ihnen den Umgang mit Sexualität vermitteln. Viele seien schon mit sieben, acht, neun Jahren mit den Filmen in Kontakt gekommen. „Einer lädt sich einen Film aus dem Internet auf sein Handy runter und gibt es an andere weiter, gemeinsam schaut man sich das dann auf dem Schulhof an“, sagt Siggelkow. Den Kindern werde durch die Pornofilme ein völlig liebloses Bild von Sexualität vermittelt, ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit.

Den ersten Geschlechtsverkehr hatten die von Siggelkow befragten Mädchen im Schnitt zwischen elf und zwölf Jahren, Jungen ein Jahr später. Dies ist wesentlich früher als eine Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung vor zwei Jahren ergeben hat. Die Forscher hatten 5000 Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren über ihre Sexualität befragt hat. Nach ihren Erkenntnissen waren lediglich 14 Prozent der Mädchen und 12 Prozent der Jungen beim „ersten Mal“ jünger als 14 Jahre alt. Die meisten waren 15 Jahre und älter.

Die Realität, die Pfarrer Siggelkow und Arche-Mitarbeiter Wolfgang Büscher geschildert wurden, ist eine andere. Ein Mädchen gestand, dass sie bereits mit Dutzenden Jungen geschlafen habe. Andere Jugendliche haben erzählt, wie sie mit 13, 14 Jahren regelmäßig zuschauen, wie ihre Mütter oder Väter mit wechselnden Partnern Sex hätten. Umgekehrt würden auch Mütter bei sexuellen Handlungen ihrer Kinder zusehen und noch Tipps geben, wie ihre Töchter Männer ausdauernder befriedigen könnten. Siggelkow hat in den Gesprächen erfahren, dass offenbar besonders junge Mütter keine Scham hätten, schon morgens beim Frühstück Pornos mit ihren Kindern anzusehen. In den Jugendcliquen würden Mädchen von Junge zu Junge „durchgereicht“. Die Jugendlichen würden sich zudem gegenseitig noch anstacheln, wer die meisten Sexualkontakte habe.

Für die befragten Jugendlichen sei Sexualität „eine bloße physische Beschäftigung“, sagt Siggelkow. So würden sich die Jugendlichen auch nicht mehr küssen oder Händchen halten, sondern gleich miteinander schlafen.

Alarmierend war für die Arche-Mitarbeiter auch, dass sich die Jugendlichen keine Gedanken um Verhütung machen. Viele Mädchen glaubten, es reiche, nach dem Geschlechtsverkehr um den Block zu joggen, um nicht schwanger zu werden. Etliche der Interviewten hätten schon mit 13 die erste Abtreibung hinter sich gehabt.

Nach den Gesprächen mit den 80 Jugendlichen ist er überzeugt, dass nicht nur Kinder aus dem Umfeld der Arche in Hellersdorf sexuell verwahrlost sind. „Hier läuft etwas massiv schief“, sagt Siggelkow. „Wenn wir als Gesellschaft nichts unternehmen, wird sich das weiter ausbreiten.“ Der Pfarrer fordert, dass in den Schulen viel Sexualkundeunterricht erteilt wird. „Und zwar nicht so, wie vor 25 Jahren, sondern so, dass er den Kindern weiterhilft und sich auf ihre Realität einstellt.“ Auch müssten sich Mitarbeiter in Organisationen, Lehrer und Erzieher mehr um das Vertrauen der Jugendlichen bemühen, um überhaupt zum Kern ihrer Probleme vorzustoßen. Denn bei aller Verrohung, sei in den Gesprächen auch deutlich geworden: „Alle sehnen sich nach Liebe und Zärtlichkeit und träumen von einer Vater-Mutter-Kind-Beziehung.“ Claudia Keller

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