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Bahnhof Zoo: 27 Jahre nach Christiane F.

Der Mythos lebt weiter: Es gibt wieder ein Buch über die Jugendszene von einem der sozialen Brennpunkte Berlins. Der Psychologe Stefan Thomas hat rund 300 Jugendliche und junge Erwachsene am Bahnhof Zoo ein Jahr lang beobachtet und interviewt.

Berlin (11.08.2005, 15:56) - Sein Fazit: Auch wenn es keine Kinder unter 14 mehr in der Bahnhofsszene gibt, spielen kaputte Elternhäuser, Drogen und Prostitution noch immer eine große Rolle.

Sie heißen Oliver oder Franziska, und sie treffen sich fast täglich am Zoo. Oliver (23) hat seine Maurerlehre abgebrochen und geht auf den Schwulenstrich. Franziska (19) schmiss die Schule und raucht Haschisch am Bistrotisch. Beatrix (25) half erst ihr Kind, das Leben am Bahnhof aufzugeben. «Wäre ich nicht schwanger gewesen, wäre ich wohl am Zoo geblieben», hat sie Autor Thomas erzählt.

Bis zu 75 junge Leute zwischen 14 und 25 Jahren treffen sich nach Thomas' Schätzung jeden Nachmittag und Abend «am Zoo», um Einsamkeit und Perspektivlosigkeit zu entfliehen. Die meisten sind älter als 17 Jahre. Ein gutes Drittel der Szene besteht aus Mädchen und jungen Frauen. «Der Bahnhof ist für die jungen Leute wie ein Wohnzimmer», sagt der Psychologe. Er diene als Treffpunkt und Kontaktbörse, jeder könne hier schnell dazugehören. «Der Bahnhof macht süchtig», sagen die Jugendlichen. Hier finden sich Gleichgesinnte, hier kann man sich streiten oder verlieben - und kaum jemand stellt Fragen.

Doch ein harmloser Jugendtreff ist es nicht. Wer zur Jugendszene am Zoo gehört, hat oft handfeste Probleme. «Es geht fast ausnahmslos um Konflikte im Elternhaus», berichtet Thomas. Seine Liste ist lang: Vernachlässigung, Scheidung, ungeliebte Pflegefamilien, Schulprobleme, Ausbildungsstress, Gewalterfahrungen, Misshandlungen und sexueller Missbrauch. «Viele Jugendliche haben in ihrem Leben nur wenig Anerkennung und Bestätigung bekommen», ergänzt der Psychologe. Sie misstrauten allen Erwachsenen, seien aber auch zu unerfahren, um ihr Leben allein in den Griff zu bekommen - ein Teufelskreis.

Dennoch ist der Bahnhof Zoo nicht mehr das, was er zu den Zeiten von Christiane F. war. Schmuddelige Ecken und Toiletten sind verschwunden, Ladenpassagen glänzen, es gibt Videokameras und den Wachschutz. Die Grüppchen der Jugendlichen fallen im Trubel der Reisenden kaum auf. «Das Verelendungsszenario der Junkies gibt es nicht mehr», sagt Jutta Gropper, Sozialarbeiterin im Gesundheitsamt. Dennoch nähmen viele Jugendliche Drogen. «Manche pfeifen sich alles rein, was breit macht, um sich Zufriedenheit und Glück vorzugaukeln», ergänzt Autor Thomas.

Streetworker Ingo Tuchel ist für die Treberhilfe Berlin oft am Bahnhof unterwegs und zeigt Jugendlichen Wege zu Kriseneinrichtungen oder Sozialamt. «Das Hilfesystem in Berlin ist viel besser geworden», ergänzt er. Das Image von «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» sei heute mehr ein Mythos. Das jüngste Bahnhofs-Kid, auf das er stieß, war neun Jahre alt. «Und das war die absolute Ausnahme.»

Für die Älteren ist Hilfe nicht immer leicht. Ab 18 sind sie zu alt für die Jugendhilfe und scheitern oft an der Bürokratie des Sozialsystems. 200 bis 235 Euro «Stütze» können junge Leute im Monat von den Ämtern bekommen, doch die wenigsten sparen. Ist das Geld für Kino, Kneipe und Disko ausgegeben, gehen sie für ihren Lebensunterhalt betteln, klauen oder «anschaffen». Häufig fehlen Schulabschlüsse, um Arbeit oder Ausbildungsplätze zu finden.

Den Ausstieg aus der Szene schafften viele erst durch Bindungen jenseits des Zoo-Umfeldes, berichtet Thomas. Beatrix hat als junge Mutter ihren Realschulabschluss nachgemacht. Doch Selbstmordversuche als letzte Ausflucht gibt es auch. «Ein Junge hat sich an seinem Geburtstag vor den Zug geworfen», berichtet der Psychologe.

(Stefan Thomas: Berliner Szenetreffpunkt Bahnhof Zoo. Alltag junger Menschen auf der Straße, 250 Seiten, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 22,90 Euro) (tso)

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