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Berlin: Bei Missbrauch endet jede Schweigepflicht

Wie misshandelten Kindern besser geholfen werden kann, diskutierten Pädagogen, Ärzte und Polizisten

In Berlins Statistiken tauchen sie als anonyme Fälle von Kindesmissbrauch auf. Im wahren Leben verbergen sich dahinter Geschichten wie die von Manuela. Das vernachlässigte Mädchen war sieben, als es in die Kinderwohngruppe von „Neuhland e.V.“ kam – sechs Jahre lebte es dort. Manuela wurde vom dritten Lebensjahr an von ihrem Vater und dem Lebensgefährten der Oma in der vermüllten Wohnung missbraucht. Noch in der Wohngruppe schenkte die Oma dem Kind durchsichtige, erotische Kleidung. Weil das Mädchen Bestätigung nur über Sexualität bekam, bot es sich weiter völlig distanzlos anderen Erwachsenen an, nässte und kotete ein, konnte eigene Bedürfnisse und Grenzen weder fühlen noch äußern. Um solche Schicksale vernachlässigter und missbrauchter Kinder ging es bei der gestrigen Fachtagung „Verletzte Kindheit – Zusammenwirken im Konflikt“ vom Verein Tannenhof im Tagungszentrum der Katholischen Akademie in Mitte.

Seitdem in der Stadt zuletzt häufiger verwahrloste Kinder vor ihren Eltern in Sicherheit gebracht wurden, wird in Berlin viel über Prävention und Hilfe diskutiert. Jugend- und Sozialverwaltung erarbeiten gerade ein Konzept für ein „Kindernetzwerk Gewalt und Prävention“: Dazu gab es bei der Tagung viele Anregungen.

So wüssten zu wenige Erzieher und Lehrer, aber auch Berufsgruppen wie Ärzte und Psychologen, dass sie gegen ihre Schweigepflicht verstoßen und Anzeige erstatten dürfen. Nämlich dann, wenn das Wohl eines Kindes akut bedroht sei, etwa weil die Eltern aus Angst vor dem Nachweis von anhaltendem körperlichen und sexuellen Missbrauch öfter den Kinderarzt wechseln oder vor dem Jugendamt flüchten, indem sie umziehen. „Dann steht Kindesschutz über Datenschutz, man spricht vom rechtfertigenden Notstand“, sagte Referentin Katrin Sprung, Kriminaloberkommissarin im Landeskriminalamt. Behördenvertreter dürften das Kind auch ohne Wissen der Eltern vom Arzt untersuchen lassen. Katrin Sprung appellierte, sich im Zweifel lieber bei der Polizei zu melden, zumal die Beamten längst intensiv mit allen sozialen Diensten kooperieren. Die Angst einiger Zeugen vor Repressalien durch den Täter sei unbegründet, dies zeige die Praxis.

Auch Anja Lilienweiß von „Neuhland“ wünscht sich mehr mutige Mitbürger. Oft hätten Lehrer oder Erzieher das Gefühl, dass etwas nicht stimme, sie tauschen sie aber nicht aus – und überlassen Kinder wie Manuela allzu lange ihrem Schicksal. In der Wohngemeinschaft lernte das Kind, dass es regelmäßig zu essen gibt, dass jemandem daran liegt, dass es in die Schule geht. Therapeuten verdeutlichten ihr, dass man Freundschaft nicht mit Geschenken erkaufen kann. Wie viele vernachlässigte Kinder leidet das traumatisierte Mädchen heute unter der Persönlichkeitsstörung Borderline-Syndrom. Manuela assoziiert zudem Chaos mit Wohlgefühl – und nimmt ihre Familie bis heute in Schutz.

Die Polizei bietet Weiterbildungen für Erwachsene dazu, wie man Kinder schützt, Opfer von Missbrauch und Gewalt zu werden, und bietet auch Schultheaterstücke an (Infos: Tel. 4664-914300).

Annette Kögel

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