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Berlin-Bücher: Spiegel der brennenden Welt

Dirk Westphals zeitkritischer Roman „Die Gestörten“ zeigt Berlin als Metropole der Armen und Verzweifelten.

Der Anfang des Buches nimmt gefangen. Schließlich gibt es kaum einen Berlin-Roman, der mit einer aktuellen Szene aus dem syrischen Bürgerkrieg beginnt: In Damaskus entschließt sich die 15 Jahre alte Samira, die im Granatenhagel ihre Familie verliert, ihre Heimat zu verlassen, um nach Europa zu gehen. Dass sie am Ende einer peinigenden Flüchtlingsodyssee in Berlin landen wird, ist in der Eingangsepisode intendiert. Und wird ein paar Seiten weiter sogleich mit dem Leben des reichen Unternehmersohns Paul van Orten kontrastiert, der auf dem Berliner Maifeld dem Schnöselsport Polo nachgeht.

Die beiden sind nur zwei der sage und schreibe 19 wichtigen Protagonisten von „Die Gestörten“. Dankenswerterweise wird das ausufernde Personal in Dirk Westphals so zeitgenössischem wie zeitkritischem Roman schon vor dem Beginn der Geschichte eingeführt – in Form der guten alten alphabetischen Personenübersicht, was in dem auf altmodische Lesehilfen wie Kapitel verzichtenden Text auch bitter nötig ist. Immer wieder ertappt man sich beim Versuch, der atemlosen Parallelmontage sich kreuzender paralleler Leben beim Zurückblättern zu folgen: Wer war der noch mal?

Kein Zweifel, der Berliner Journalist Dirk Westphal hat sich in seinem zweiten Roman einiges vorgenommen. Internationales Flüchtlingselend inklusive Protestcamp auf dem Oranienplatz, Korruption, Rechtsnationale, Raubtierkapitalismus, Bauunternehmermachenschaften, Gentrifizierung und der alltägliche Nachrichtenwahnsinn in Form eines eingestreuten Schlagzeilentickers – alles drin.

Sein erst im vergangenen Oktober erschienenes Debüt „Fast Leben“ widmete sich in Gestalt eines sexsüchtigen Soziopathen und Clubgängers bereits der Nachtseite der Stadt. Doch mit „Die Gestörten“ installiert er Berlin ganz und gar als Metropole der Armen, Verzweifelten, Gierigen, Kranken, Verlorenen. Sozusagen als Spiegel und Brennglas einer an allen Ecken brennenden Welt.

Mit „Die Gestörten“ sind nicht nur die Beschädigungen und charakterlichen Defizite der holzschnittartig gezeichneten Menagerie aus Geschäftemachern, Huren und rumänischen, bulgarischen oder arabischen Glückssuchern gemeint, sondern auch die lethargische, satte Westeuropäer-Masse, also die bessergestellten Einwohner von Berlin. Die flüchten sich vor den Belästigungen und Verunsicherungen nach Potsdam in „Gated Communities“, was längst Realität und nicht Science-Fiction ist. Dass der Autor sich nicht scheut, heiße politische Eisen anzufassen, verdient Respekt. Weniger Kolportage und mehr erzählerische Eleganz wären trotzdem schön.

Dirk Westphal: Die Gestörten. Roman. Verlag Tredition, Hamburg. 300 Seiten, 14,50 Euro

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