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Berlin: Berlin, Ecke Pappelallee

Werner Castorf, 90, ist nicht nur der Vater des Volksbühnenchefs Frank Castorf, er führt auch einen Rolloladen in Prenzlauer Berg, den die Familie 1899 gegründet hat. Freiwillig hätte er den nie geschlossen, doch jetzt muss er.

Von David Ensikat

Am 24. Januar hatte Werner Castorf den Gerichtstermin. Er war etwas aufgeregt, es war sein erster. Noch nie hatte er irgendwas vor Gericht klären müssen. Jetzt sollte es darum gehen, ob er seinen Laden sofort schließen muss oder ob er noch weiter arbeiten darf. Es war der Tag vor seinem 90. Geburtstag.

Der Vermieter hatte ihm gekündigt, weil Castorf die Ladenmiete für drei Monate nicht zahlen konnte. Es sind die Wintermonate, da läuft das Geschäft mit Sonnenschutzvorrichtungen nicht, an manchen Tagen kam kein einziger Kunde. Das war in den vergangenen Jahren immer so, er hat die Mietschulden des Winters im Sommer oder Herbst beglichen. Auf einmal soll das nicht mehr gehen. „Ick weiß ja, dass der mich raussetzen kann, wenn er will“, sagt Werner Castorf. Trotzdem hat er Widerspruch eingelegt. Was soll er denn machen, wenn er den Laden nicht mehr hat? Zu Hause sitzen, die ganze Zeit? Die Wohnung ist winzig, und seine Frau ist auch noch da – „Gott sei Dank ist die noch da, aber wir sind das nicht gewohnt!“

Und dann kam weder der Vermieter noch der Anwalt des Vermieters zum Gericht, die Verhandlung wurde vertagt, und Werner Castorf hat keine Ahnung, wie das alles weitergehen soll.

Er sitzt zu Hause in seinem kleinen Wohnzimmer mit der großen Schrankwand, in der zwei Schnauzer aus Porzellan stehen und ein Porträtfoto vom Sohn. An den Wänden hängen ein paar dunkle Ölbilder im Goldrahmen und zwei weitere Fotos vom Sohn. Das ist nämlich Frank Castorf, der Volksbühnen-Intendant und Theaterberserker. Auf den Fotos, die sich seine Eltern in die Stube gehängt haben, wirkt er sehr gesittet, auf beiden bekommt er etwas überreicht, irgendwelche Preise von irgendwelchen Leuten, wer das jetzt genau war, weiß der Vater nicht mehr. Aber stolz ist er: „Der Bengel hat’s ja ganz nach oben geschafft! Kann man doch wohl sagen, jetzt, wo’se ihn in Bayreuth wollen.“ Gerade hat der Bengel seinen Volksbühnenvertrag verlängert, bis 2016, dann wird er 65 und müsste in Rente gehen. Aber wenn die Ähnlichkeit mit seinem Vater nicht nur eine äußerliche ist, dann werden sie Mühe haben, ihn zum Aufgeben zu überreden. Aufgeben ist nicht so die Sache der Castorfs. Das zeigt auch die Geschichte des Ladens. Es ist eine Geschichte quer durch ein Jahrhundert und ein paar glücklose Jahre darüber hinweg. 1899 kam der Eisenwarenhändler Albert Castorf, Werners Großvater, nach Prenzlauer Berg. Die Gethsemanekirche stand seit sieben Jahren, in der Gegend gab es viele neue Häuser und noch mehr neue Baustellen. Es entstand ein Wohnquartier für Tausende, und alle brauchten Hämmer, Nägel, Leitern.

Der alte Castorf wollte all das gerne liefern und besiegelte per Handschlag den Vertrag mit dem Erbauer des Hauses Pappelallee Ecke Stargarder Straße: Ins Erdgeschoss sollte der große neue Castorf-Laden. Es war die Zeit, in der die deutschen Männer ihre Schnurrbärte in die Höhe zwirbelten und einer großen Zukunft entgegensahen. Der Kaiser kaufte Eisen für seine neue Flotte bei Krupp in Essen, die Prenzlauer Berger kauften die Eisenwaren für ihre neuen Wohnungen bei Castorf an der Pappelallee.

Die Geschäfte liefen prächtig, den Ersten Weltkrieg, Inflation und Krise überstand der Laden, Willy Castorf, Alberts Sohn und Werners Vater, übernahm die Leitung, richtete in der ersten Etage eine Spielwarenabteilung ein, führte in den Schaufenstern nach Einbruch der Dunkelheit Schmalfilme vor, dann kam der Zweite Weltkrieg, und der Bedarf in Prenzlauer Berg änderte sich grundlegend: Die Männer, die die Eisenwaren gekauft hatten, waren alle an der Front, es kamen die Nächte, in denen der Himmel über Berlin dröhnte, weil dort die Flugzeuge flogen, die britischen und amerikanischen, und ihre Bomben auf die Stadt abwarfen, vor allem dorthin, so wurde befürchtet, wo die Stadt am hellsten leuchtete.

Was also brauchten die Berliner? Dinge zum Verdunkeln, Rollos und Jalousien. So wurde aus dem Eisenwarenladen ein Fachgeschäft für alles, was man an Fenster anbringt, im Krieg zum Schutz vor den Bomberblicken, im Frieden zum Schutz vor Sonne und Nachbarsblicken. Mit dem Frieden kam der Sozialismus, und mit dem Sozialismus kamen neue Probleme. Auf den Castorfs, die sich doch immer nach den Bedürfnissen der Allgemeinheit gerichtet hatten, lastete nun ein schlimmer Makel: Sie waren „Privatkapitalisten“, Menschen, die andere Menschen für sich arbeiten ließen und ihr Tagwerk auf Profitstreben gründeten. „Kommt in die HO“, hieß es – die „Handelsorganisation“ war ein genossenschaftlicher Verbund des DDR-Einzelhandels, ein Garant gesellschaftlichen Fortschritts und sozialistischer Mangelwirtschaft. Das kam für die Castorfs nicht infrage. Werner, mit 16 Granatsplittern im linken Arm aus dem Krieg zurückgekehrt, war inzwischen alt genug, den Laden zu übernehmen. Mit dem Vater gründete er eine „Offene Handelsgesellschaft“, gelangte durch eine Gesetzeslücke an die Gewerbegenehmigung und setzte den kleinen Privatkapitalismus fort.

Es waren mühselige und schöne Zeiten, trotz Mangelwirtschaft waren es für Werner Castorf die Blütejahre: Bettelfahrten zum Jalousienhersteller im Erzgebirge, Großaufträge von Ministerien und der Verkauf der dabei abfallenden Restrollos, Schlangen vor dem Laden, der Dank der Kunden, nach einem Jahr Wartezeit eine maßangefertigte Jalousie erstehen zu dürfen. Für DDR-Verhältnisse verdienten die Castorfs gut, sie konnten sich ein großes Grundstück bei Brieselang leisten und immer mal ein neues Auto. Auch dass Frank, der einzige Sohn, nie daran dachte, das Geschäft zu übernehmen und stattdessen merkwürdige Dinge am Theater machte, akzeptierten sie. Als Schluss war mit dem Sozialismus, da begrüßten die Castorfs die neue Freiheit, selbstverständlich. Konkret bedeutete sie beinahe den Ruin.

Werner Castorf hatte sich auf die planwirtschaftlichen Verhältnisse der DDR eingestellt. Da besagte eine Regel: Bestelle immer doppelt so viel Ware, wie du brauchst; wenn du Glück hast, bekommst du halb so viel. Nun aber, 1990, bekam er alles, wirklich alles, was er zwei Jahre zuvor bestellt hatte, Rollos, Jalousien, Markisen in unvorstellbaren Mengen, Ware, die ihm ein Jahr zuvor aus den Händen gerissen worden wäre – aber jetzt doch nicht mehr. Jetzt fuhren die Prenzlauer Berger in den Westen und kauften Westrollos. Die waren zwar nicht haltbarer als die, die Castorf hatte, aber sehr viel bunter. „Ick kann Ihn’ sagen, dit hätte uns fast dit Jenick jebrochen“, sagt Werner Castorf, guckt über seine Lesebrille hinweg, überlegt, wie er die Spannung noch ein wenig hält, und entscheidet sich für: „Langer Rede, jar keen Sinn: Irgendwie ham wir’s denn doch jeschafft.“

Eine große Rolle, da ist sich der Kaufmann sicher, spielten seine Schaufenster: „Da kannste eigentlich kaum wat falsch machen. Mit acht Schaufenstern geht vieles von alleine.“

Ein Münchner Zahnarzt kaufte das Haus, und Castorf blieb mit seinem Laden drin. Er war schon längst im Rentenalter, „aber dit war jar keen Thema, niemals. Warum ooch?“ Weil die Geschäfte nicht mehr so liefen wie zuvor? „Ach wat, die liefen doch. Und bei der Miete hatten wir Bestandsschutz!“

Während sein Sohn von der Berliner Volksbühne aus die deutsche Theaterlandschaft umpflügte und in Riesenlettern das Wort „OST“ aufs Dach pflanzte, verkaufte Werner Castorf so viele bunte Westrollos, dass er die Pleite mit den Ostrollos verschmerzen konnte. Er machte immer weiter, nicht nur weil er das von Vater und Großvater so kannte – es blieb ihm auch gar nichts anderes übrig. Die Castorfs mögen im Sozialismus „Kapitalisten“ genannt worden sein, ein großes Kapital konnten sie deshalb noch lange nicht zurücklegen. Und die Rentenansprüche, die sie jahrzehntelang erwarben, sind lächerlich: 800 Euro er, 300 Euro sie. Also blieb das Castorf-Leben ein Arbeitsleben, unterbrochen immerhin von den Theaterbesuchen.

Wenn ein Stück des Sohnes an der Volksbühne Premiere hat, gehen die Eltern bis heute hin. Auch wenn ihnen nicht ganz einleuchtet, warum der Bengel es mit seinen Stücken so übertreiben muss: „Vier, fünf Stunden dauert so wat manchmal, und da hab’ ick ihm och jesacht, hör ma, dit muss doch nich’ sein. Doch, hatter da jesacht, dit muss sein.“ Und wenn Dinge auf der Bühne passieren, die man nicht versteht? „Ick sag’s mal so: Entweder man is' bereit, ein bisschen nachzudenken, warum dit da passiert, oder man soll rausjehn.“ Er ist noch nie gegangen, obwohl er immer direkt am Rand sitzt. Nur für den Fall.

Dann erzählt Werner Castorf von dem Schauspieler im Pappkarton: „Als ick dit zum ersten Mal gesehen hatte, war mir überhaupt nich klar, wat dit sollte. Am nächsten Tag hab ick mir gesagt: Dit is die Einschachtelung des Menschen, verstehen Sie? Wenn er nich’ mehr beweglich is’. So is dit mit den Metaphern. Da muss man drüber nachdenken.“

So eine Einschachtelung erlebte Werner Castorf um die Jahrtausendwende recht konkret. Da wurde der Bestandsschutz aufgehoben, der Zahnarzt verkaufte das Haus, und der neue Besitzer ließ sich lieber die Miete von einem brandneuen Restaurant als von einem 100 Jahre alten Rolloladen erwirtschaften. Castorf musste seine 200 Quadratmeter eintauschen gegen zwei Räume à 20 Quadratmeter im selben Haus. „Die Murkelkammer“ hat er den Ersatzladen oft genannt. Die Ware, die nicht reinpasste, lagerte er im Garten, er fuhr sowieso immer hin und her. Einen Gewinn, so sagt der Kaufmann, habe der Laden in den vergangenen Jahren nicht mehr abgeworfen. Aber sollte er ihn deshalb aufgeben? Der Laden ist sein Leben.

Jetzt ist Werner Castorf dabei, die letzten Reste hinauszubringen. Er weiß ja, dass er die Kündigung nur etwas hinauszögern, aber nicht verhindern kann. Im Garten steht ein Container, unterm Carport stapeln sich die Sachen. Und der Kaufmann steht noch dreimal in der Woche in seinem Laden, dienstags, mittwochs, donnerstags von drei bis sechs Uhr am Nachmittag. Und seit in der Zeitung stand, dass er raus muss, kommen die Kunden wieder, „jeden Tag“, sagt Castorf. Andere Leute wären verbittert, Werner Castorf ist erstaunt. Er verkauft seine Restbestände für Schleuderpreise, was er nicht mehr im Laden hat, holt er aus dem Garten.

Es betritt ein Kunde nach dem anderen Castorfs Murkelkammer. Da fällt es gar nicht auf, wie kalt es ist. Die Heizung hat in den vergangenen zehn Jahren noch nie funktioniert. Werner Castorf trägt eine dicke Jacke und scherzt mit seinen Kunden, das hält ihn warm. Einer hat gerade angerufen und holt jetzt eine „Jalousette“ ab – „Nun lasst den Mann mal vor, den will ick zuerst rausekeln!“, sagt der Chef. Dann berät er eine Frau, die staunt, zwischen wie vielen Farben fürs Rollo sie sich entscheiden muss – „Hier geb ick Ihnen noch die andere Palette, damit Sie et nich’ so leicht haben“, sagt er der.

Wenn aber kein Kunde mehr da ist und es still wird und man fragt, was wird, wenn wirklich Schluss ist mit dem Castorf-Laden an der Pappelallee, dann wirkt der Mann von 90 Jahren gar nicht mehr so jung. Er hat keine Ahnung. „Die ganze Ware, im Garten! Die kann ick dann sortieren und auf den Schrott bringen. Dit wird nich’ leicht sein.“ Ob er denn weiß, was der Vermieter vorhat mit den Räumen? „Keine Ahnung, bestimmt wat Gastronomischet.“ Es war schon jemand da, der einen Delikatessenladen aufmachen würde. Und meinte, dass er die Wand hinten gern entfernen würde. „Wenn der dit macht, musser nur aufpassen, dass dit Haus ihm nich’ aufn Kopp fällt.“

So ist das hier in Berlin-Prenzlauer Berg: 100 Jahre lang konnten die Castorfs den Leuten alles außer Essen liefern. Dann kam der Westen, der Wohlstand wuchs, und die Parkplätze wurden knapp. Denn die neuen Prenzlauer Berger haben Autos, um all ihre Dinge anderswo zu kaufen. Nur essen gehen, das machen sie im Kiez. Und Werner Castorf macht den Laden zu. Für die Gastronomie ist er vielleicht wirklich zu alt.

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