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Berlin: Berlin, ein Sommermärchen

Was ist bloß los mit der Stadt? Die WM und die Touristen haben unsere Stimmung verändert. Die Hauptstädter zeigen ihre Lebensfreude, gut gelaunte Menschen überall – selbst singen ist normal

Wenn Schubschiff-Kapitän Thomas Mooz durch Berlin schippert, schaut er normalerweise auf eine Ladung von Kies, Schrott oder Sand. Seit einer Woche besteht sie aus grinsenden Freizeitkickern, Fußball-Groupies, die sich an der Reling sonnen, einem DJ und einer riesigen Tonnage an WM-Gefühl, diesem schwer definierbaren Mix aus kollektivem Begeisterungsrausch, stiller Daseinsfreude und totaler Sorglosigkeit. Mooz sagt, ihm sei es egal, ob er Kies oder WM-Touristen mit sich führt, aber später einmal wird er sich erinnern, wie es war in jenem Sommer, als Berlin seine Lebensfreude wiederentdeckte und alles knausrige Lästern über Steuern, Schulden oder sinkende Frachtraten kein Thema mehr war.

Die Stadt hat deutlich Ballast abgeworfen, psychologisch betrachtet. Zehn Tage WM haben die Gesichtsmuskeln der Berliner beweglicher gemacht. In den S-Bahnen kommen Menschen miteinander ins Gespräch, die nichts anderes verbindet als ihr Weg ins Olympiastadion. Und es wird wieder gesungen, auf offener Straße. „Deutschland wird Meister“ – „Ole, ole, ole“. Nicht schön vielleicht, aber ansteckend.

Zwei Italiener sind mit klapprigen Rädern auf der Tiergartenstraße unterwegs und sprechen alle Passanten an, die sie überholen. „Italiano?“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, rufen sie: „Viva Italia!“ Es lebe Deutschland, sagt noch keiner. So ein Spruch läge jenseits des akzeptierten Patriotismus. Schwarz-rot-goldene Fahnen sind dagegen erlaubt, ja sogar erwünscht, in jeder Größe, als Wickelrock, Kopftuch, Wimpel oder Armbinde. Man will nicht länger hinter den ausländischen Fans zurückstehen. Auf der Fanmeile ist nationale Symbolik Pflicht.

Die WM hat unbekanntes Terrain erschlossen. Spreebogenpark – wer kannte den bislang schon? Jetzt läuft mitten hindurch der Fußweg vom Hauptbahnhof zum Brandenburger Tor und weiter zum Potsdamer Platz: die neue Nord-Süd-Achse. Der Alsensteg, die Fußgängerbrücke über die Spree, gleicht einer Ameisenstraße. Viele Fußballtouristen erleben wie selbstverständlich ein Berlin, das es bis vor wenigen Wochen noch gar nicht gab. Es ist eine supermoderne Stadt aus hellem Beton, Glas, unendlich viel Freiraum mit Rasen und Wasserstraße, breiten, ungenutzten, glatt gewalzten Straßen. Am Ende dann öffentliches Fußballgucken unter Bäumen, auf Panoramabildflächen, gestochen scharf, mit gekühltem Bier und fröhlichen Sitznachbarn aus Schottland oder Togo. Das Leben in Deutschland, ein Sommermärchen.

Gerhard Buchholz, WM-Beaufragter der Berlin-Tourismus-GmbH, ist jeden Tag auf der Fanmeile, um die feinen Ausschläge des WM-Gefühlsbarometers zu sichten. Er vergleicht das, was er erlebt, mit den Tagen der Reichstagsverhüllung. In den Interviews mit Fernsehreportern aus Vietnam oder Australien erzählt er von einer Stadt, die es gewöhnt ist, mit hunderttausenden Gästen ausgelassen zu feiern. „Die ausländischen Journalisten wundern sich über die Deutschen. So viel Euphorie passt nicht ins Germanen-Klischee.

Und wie weit strahlt die WM-Stimmung in die Stadt hinein? Singende Schweden-Fans im königlichen Gelb-Blau haben das Oberdeck eines Spreedampfers gekapert. Am Ufer bleiben Menschen stehen, winken oder recken die Daumen. Am Sage-Club, Heinrich-Heine-Straße, hält ein Taxi an der roten Ampel. Genug Zeit für den spanischen Fan, ein Ständchen für die Frau zu singen, die sich gerade am Eingang sonnt.

Die Kreuzberger Szene ist gespalten. Vor der Marabu-Bar, Oppelner Straße, sitzen vier Rastafaris mit nacktem Oberkörper und diskutieren am Thema WM vorbei. Drinnen läuft England gegen Trinidad & Tobago vor drei stummen Gästen. Wie überall in der Stadt fahren geflaggte Autos herum. Trödelläden haben sich zu bunten Touristenshops gemausert. An der Oberbaumbrücke haben sie Ronaldo und Ronaldinho fünf Etagen hoch an eine Fassade genagelt. Man braucht lange, um auf deutliche Zeichen der Gegenkultur zu stoßen. Über dem Buchladen „NGBK“ in der Oranienstraße hängt ein großes Banner. Professioneller Farbdruck: „A time to make money. Die Welt des Spektakels kennt keine Freunde.“

Die Fans kommen nicht bis nach Kreuzberg. Wenn keine Spiele sind, besetzen sie die Cafés am Ku’damm oder Unter den Linden. Erste Reihe. Viele reisen noch am gleichen Tag wieder ab, schlafen im Zug. Wer sich eine Nacht im Hotel leistet, hängt am nächsten Morgen noch eine Führung dran. Am Pariser Platz stehen die nobel befrackten Droschkenkutscher herum und – entgegen dem allgemeinen WM-Taumel – klagen, das Geschäft laufe schlecht. Kein Wunder, eine halbe Stunde Kutschfahrt kostet unglaubliche 36 Euro. Die Fans fahren lieber Taxe.

Ein Mann streift sich sein Bärenkostüm vom verschwitzten Leib. Auch er klagt. Die Touristen wollen nicht mit dem Berliner Bären fotografiert werden, wenn ein hausgroßer Fußball plus Brandenburger Tor als Kulisse zur Verfügung steht. Es gibt bei dieser WM eben auch Verlierer.

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