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Berlin: Berlin entdeckt die Gemächlichkeit

Im Morgengrauen zum Sport in den Park, früher zur Arbeit. Dann Siesta. Die Stadt wird südländischer

Der Großstädter mag Café Latte trinken und beim Italiener um die Ecke in perfektem Italienisch die Rechnung bestellen oder gar mit dem Wirt plaudern. Zu mediterraner Lebensart aber fehle ihm die Begabung. Sagt das Klischee. Dieses wird derzeit einer harten Probe unterzogen. Über die südländische Stimmung, die während der Fußballweltmeisterschaft auf ihren Straßen zu spüren und zu beobachten war, ist alles gesagt. Aber jetzt, da auch die Loveparade und der Christopher Street Day gefeiert wurden, übt sich die Stadt in einer anderen Disziplin. Sie entdeckt die Langsamkeit und die Siesta.

Um die Mittagszeit erscheinen einem Gegenden wie die um den Alexanderplatz oder den Potsdamer Platz herum nahezu unbelebt – verglichen mit dem Trubel, der sonst dort herrscht. Den Arbeitern auf den unzähligen Baustellen scheint das zumindest nicht unrecht zu sein: weniger Zuschauer. Sie bewegen sich schleppender als sonst. „Klar geht bei diesem Wetter alles etwas langsamer. Und man gönnt sich die eine oder andere Zigarettenpause mehr“, sagt einer. „Ganz normal“ sei das erhöhte Ruhebedürfnis, sagt Axel Wunschel, Hauptgeschäftsführer des Bauindustrieverbandes Berlin-Brandenburg. „Bei Temperaturen, wie wir sie derzeit erleben, sinkt nun einmal die Produktivität der Arbeitnehmer. Das ist bei uns nicht anders als in südeuropäischen Ländern.“ Der Arbeiter vom Alexanderplatz hofft, dass sein Chef das ähnlich sieht. Sicher ist er offenbar nicht. Seinen Namen jedenfalls behält er lieber für sich.

Das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee, immerhin wäre denkbar, dass der Chef am Mittag in einem der Straßencafés sitzt und Zeitung liest. Man trifft dort Geschäftsführer, Angestellte und Arbeiter, die ihre Mittagspausen ausdehnen, ganz gegen ihre sonstigen Gepflogenheiten. Warum? Die Antworten gleichen sich. „Die Hitze.“

Viele verlegen ihr Tagwerk schon in die Morgenstunden. Die Müllabfuhr beginnt früher, um sechs statt um sieben – um der ärgsten Mittagshitze zu entgehen. Ältere Damen suchen zum Nordic Walking die Parks auf, kaum dass die Sonne aufgegangen ist. Ehepaare im Rentenalter erledigen ihre Gartenarbeit ab sieben Uhr morgens. Sie tun das, um sich am Mittag vielleicht ein Stündchen auf einem Sofa in einem abgedunkelten, kühlen Raum gönnen zu können.

An den Abenden sieht man die Menschen noch lange in den Biergärten und am Flussufer sitzen. An Schlafen ist an manchen Tagen nur schwer zu denken, also versucht man es erst möglichst spät.

Das alles folgt einem gewissen Zwang, schon klar, es ist eine natürliche Reaktion auf das Wetter. Das sagen auch Ärzte. Trotzdem gut möglich, dass man in ein paar Monaten, mit etwas Abstand, sagen wird: Italienischer oder spanischer als in diesem Sommer war Berlin nie.

Marc Neller

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