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Nicht allein. Ingeborg Koske (2.v.l.) lebt im Seniorenwohnhaus in Berlin-Moabit - und muss womöglich ausziehen.

© Kai-Uwe Heinrich

Berlin und die Gentrifizierung: Mit 85 plötzlich ohne Zuhause

Städtische Seniorenwohnungen sollten ein sorgenfreies Alter ermöglichen – auch bei kleiner Rente. Doch viele Gebäude sind von Berlin mittlerweile verkauft worden. Was das für die Bewohner bedeutet, zeigt ein Beispiel aus Moabit.

Es ist an einem Frühlingstag, kurz nach drei, als sich Ingeborg Koske an einen anderen Ort singt. An der Wand hängt ein Schmetterling, darunter steht ein Rollator, und Ingeborg Koske singt, dass sie hoch auf dem gelben Wagen sitzt und die Pferde vorwärts traben. Sie singt auch vom Wandern und vom Neuanfangen, und mit ihr singt ein Dutzend anderer alter Menschen. Können sie sich mal nicht aufs nächste Stück einigen, drehen sie die rote Lostrommel mit den 38 nummerierten Bällen, einer für jedes Lied im Gesangbuch.

Das Haus am Hansa-Ufer 5 mit seinen 66 kleinen Wohnungen wurde 1975 als Seniorenwohnhaus gebaut, die Menschen, die hier leben, haben den Krieg erlebt und Berlin in Trümmern gesehen. Der hauseigene Chor, Treffpunkt einmal die Woche im Gemeinschaftsraum, heißt Herbstlaub-Singers, eine Anspielung auf den Herbst des Lebens, natürlich, doch das mit dem Laub hat vor kurzem noch eine erschreckende Bedeutung bekommen: Vielleicht werden sich die Bewohner schon bald wie Blätter eines Baumes in alle Winde zerstreuen. Berlin hat das Haus an einen privaten Investor verkauft, und der wirbt bereits mit First-Class-Wohnungen am Hansa-Ufer 5.

Modernisierung, Sanierung, Mieterhöhung

„Tun Sie sich einen Gefallen und ziehen Sie ans Hansa-Ufer, jetzt sind Sie noch jung genug, die Umstellung zu packen ...“, hatte die nette Frau vom Bezirksamt zu Ingeborg Koske gesagt. Das war 1996, damals war die Fischverkäuferin 67 Jahre alt und lebte mit ihrem Mann in Prenzlauer Berg, vierter Stock, ohne Aufzug. Vom Hansa-Ufer wollten sie erst nichts wissen, kein Balkon und auch noch im Westen, weit weg von der Datsche, nee, bloß nicht, aber dann fuhren sie doch vorbei, nur mal gucken. Und sahen: vorm Haus die Spree, im Haus die Laubengänge, größer als jeder Balkon, und hinterm Haus eine Brache, wie gemacht für einen Garten. „Ich glaube, wir sollten ...“, sagte Ingeborg Koske, „Das wollte ich auch gerade sagen“, erwiderte Gerhard Koske. Und so fanden das Ehepaar und die Tulpen aus der Datsche ihr neues Zuhause.

Leben im Grünen. Das Seniorenwohnhaus in Berlin-Moabit entstand im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus.
Leben im Grünen. Das Seniorenwohnhaus in Berlin-Moabit entstand im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus.

© Kai-Uwe Heinrich

18 Jahre später steht in Ingeborg Koskes Wohnung ein Strauß Plastikblumen, ihr Mann ist seit fünf Jahren tot, umso wichtiger wurden die anderen Bewohner, die Abende auf den Laubengängen, die Geburtstagsfeiern im Gemeinschaftsraum. „Das Haus war wie ein Sechser im Lotto für mich“, sagt Koske. In der einen Hand hält sie einen Stock, auf den sie sich stützt, in der anderen einen Aktenordner. Darin ist ein Schreiben des Eigentümers, Ankündigung von Sanierung, Modernisierung, Mieterhöhung, zehn Seiten, viele Sätze, die für Ingeborg Koske eins bedeuten: Sie wird sich im Alter von 85 Jahren wohl auf die Suche nach einem neuen Zuhause machen müssen.

Ein Wohnberechtigungsschein war notwendig

In den 70ern wurden in Berlin im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus Seniorenwohnhäuser gebaut. Gedacht waren sie für alte Menschen mit wenig Geld, wer einziehen wollte, musste Rentenbescheid und Wohnberechtigungsschein vorlegen, vor Ort gab es einen Altenpfleger, Gemeinschaftsräume und ein Notrufsystem. „Die Wohnung ist eine öffentlich geförderte Wohnung (Sozialwohnung) oder eine sonst preisgebundene Wohnung für Senioren“, stand in Koskes Mietvertrag und sie fühlte sich sicher. Doch auch wenn die Strippe für den Notfall immer noch in ihrer Dusche hängt: Zöge Ingeborg Koske heute daran, würde sie niemand hören.

Von den 226 Seniorenwohnhäusern, die es 1992 im Westteil der Stadt gab, hat Berlin mittlerweile den Großteil verkauft. Das Hansa-Ufer 5 wurde 2007 vom Liegenschaftsfonds an das schwedische Unternehmen Akelius verkauft. In einem Brief des Bezirksamts an die Mieter hieß es: „Allerdings können wir Ihnen versichern, dass der Bestandsschutz Ihrer Mietverträge gesetzlich geregelt ist, es besteht kein Anlass zur Sorge.“ Doch offenbar gab es im Kaufvertrag dann doch keine Schutzklausel für die Mieter. „Der Liegenschaftsfonds hat uns keine Auflagen bezüglich der Nutzung auferlegt“, sagt Ralf Spann von der Berliner Akelius-Niederlassung. „Wir haben die Berechtigung, das Haus als Wohnhaus zu nutzen.“

Und so tut Akelius nun eben das, was man mit Wohnhäusern in Berlin derzeit so macht. Dämmt die Fassade, tauscht die Fenster aus, setzt ein Penthouse obendrauf – das bedeutet: anderthalb Jahre Bauzeit, eine Weile lang kein Gemeinschaftsraum mehr und für Ingeborg Koske eine Warmmiete von 808 Euro statt 574 Euro wie bislang. Und in die Brache, in der bislang der Klatschmohn blühte, kommt ein neues Haus. Es wird direkt ans Hansa-Ufer angrenzen, so dass der Laubengang vor Koskes Tür, auf dem sie abends so gern saß, ein geschlossener Hausflur wird.

Eine E-Mail vom neuen Eigentümer

Seit Jahren schon unterstützt der Unternehmens-Chef Roger Akelius SOS-Kinderdörfer, er ist als wohltätiger Mann bekannt, und deshalb schrieb Elke Schilling von der Berliner Seniorenvertretung ihm eine E-Mail. Sie dachte, dass er bestimmt gar nicht wisse, dass es im Hansa-Ufer 5 immer noch an die 40 Mieter jenseits der 65 gibt, dass eine 93-Jährige Frau dort schon 23 Jahre wohnt. Und Akelius meldete sich tatsächlich. Berlin werde sich sehr verändern, ganz egal, was Elke oder Roger wollten, schrieb er. In anderen Metropolen sei die Miete zweimal so hoch. Beste Grüße, Roger.

Zwei Taschen aus den Kriegstrümmern gerettet

Genau das, die Veränderungen in ihrer Stadt und ihrem Leben fürchtet Ingeborg Koske, vielleicht weil sie schon zu viele erlebt hat. Sie hat schon einmal mit Blick auf die Spree gewohnt, damals war sie ein kleines Mädchen und stand gern am Fenster, um die Ausflugsdampfer zu sehen. Das Haus, aus dem Ingeborg Koske schaute, gibt es heute nicht mehr. Zwei Aktentaschen waren alles, was sie und die Mutter im Krieg aus den Trümmern retten konnten. In ihrer neuen Wohnung aßen, saßen und schliefen sie wochenlang auf dem Boden und vermissten die Spree. Dass sie rund 50 Jahre später wieder an die Spree zog, erschien Koske immer wie eine Rückkehr ins Zuhause. Sie dachte für immer.

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