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Analyse zur Sternfahrt: Berliner Radfahrer leben gefährlich

Am Sonntag führte die traditionelle Fahrrad-Sternfahrt durchs Umland und über Berlins Straßen. Radler leben hier im Alltag immer noch gefährlich – wegen eigener Achtlosigkeit und verbesserungswürdiger Verkehrsplanung.

Diese Verkehrsführung grenzt an Körperverletzung: Auf dem Weg um den Kreisverkehr gabelt sich die markierte Radspur; manche Radler biegen rechts in die Adalbertstraße ein, andere halten sich links – und kommen sich zwangsläufig mit den Autofahrern in die Quere, die den Kreisverkehr verlassen wollen. Seit vielen Jahren ist der Platz am Kottbusser Tor einer der schlimmsten Berliner Unfallschwerpunkte. Zwar soll der Knoten in diesem Jahr entworren werden, aber er zeigt exemplarisch, warum die Sternfahrt an diesem Sonntag (Motto: „Radfahren – aber sicher!“) eine ernst gemeinte Demonstration ist. Und der Kotti zeigt noch mehr: Besonders gefährlich leben nicht unbedingt jene Radler, die zügig bis rüde fahren, sondern eher die Gedanken- und Sorglosen, die sich – teilweise mit Musik auf den Ohren und oft ohne einen Blick zurück – ins Getümmel stürzen.

Nach Auskunft der Berliner Polizei tragen die Radler seit Jahren die Hauptschuld an rund 47 Prozent der Unfälle, an denen sie beteiligt sind – wobei nur jeder vierte Unfall zwischen Fahrrad und Pkw oder Lkw maßgeblich vom Radler verursacht wird. Dagegen fühlen sich viele Fußgänger zu Recht von Radlern gefährdet: Knapp zwei Drittel solcher Kollisionen verursachen die Radfahrer. Für die 7056 Berliner Radler-Unfälle des Jahres 2009 ergeben sich laut Polizeistatistik zwei Hauptursachen: In 1243 Fällen waren sie als „Geisterradler“ auf dem linken Radweg unterwegs. 1293 Mal wurden sie von rechts abbiegenden Fahrzeugen gerammt. So wie die 49-Jährige, die vor zwei Wochen in Adlershof bei Grün unter einen Lkw geriet und starb.

Rechtsanwalt Martin Karnetzki hat bisher die Hinterbliebenen von etwa 20 getöteten Radlern vertreten, „zum großen Teil Opfer von Rechtsabbiegern“. Die Statistik bestätigt das: Das Rechtsabbiegen ist eine der häufigsten Ursachen für tödliche Radlerunfälle. Als zweithäufigste Opfergruppe nennt Karnetzki die Radler, die von „plötzlich aufgerissenen Autotüren“ verletzt werden. Die Quote der Radfahrer, die durch eigene Rücksichtslosigkeit verunglücken, schätzt Karnetzki auf zehn Prozent. „Eine Minderheit, aber eine auffällige.“ Häufiger erlebe er in seinen Rechtsberatungen für den ADFC „Alltagsradler, die eine Verbitterung entwickelt haben. Die sind so oft bedrängt worden, dass sie zu selbstbewusstem Fahren tendieren und nicht zurückstecken.“

Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) erklärt anhand von Studien das typische Verhalten von Radlern: Mangels Spiegel mangele es im Wortsinn oft an „Rücksicht“; fürs Umschauen „fehlt oft die nötige Fahrzeugbeherrschung“. Bei langsamem Tempo brauchen Radler viel mehr Platz als bei zügiger Geradeausfahrt. Und wenn sie einmal rollen, „haben sie viel Bewegungsenergie gespeichert, die nach jedem Halt neu aufgebaut werden muss“. Also wird aus Bequemlichkeit bei Rot gefahren – oder mit Schwung in den Menschenpulk, der den Geh- und Radweg an Bushaltestellen blockiert. Und wenn der Weg kürzer ist, wird eben links geradelt. „Viele Regelübertretungen spiegeln oft eine nicht nutzergerechte Gestaltung der Radverkehrsanlagen wieder“, heißt es in der Versicherungsstudie.

Arne Koerdt, der als Leiter der Fahrradakademie am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) Verkehrsplaner schult, teilt diese Diagnose. „Es ist mit das Schwerste, Radfahrer sicher durch die Stadt zu bringen.“ Berlin sei – im Vergleich zu anderen Städten – relativ weit, manche Bezirke aber weiter als andere. Entscheidend bei jeder Planung sei freier Blick: „Was man sieht, fährt man nicht um.“ Diese Intention verfolgen die Behörden, wenn sie Radspuren vom Gehweg auf die Straße verlegen. Dazu kommt für Koerdt: „Risikokompetenz: Autofahrer müssen wissen, dass Radler nicht nur auf den Radweg gehören. Und Radler dürfen sich nicht einfach an wartenden Lastwagen vorbeidrängeln.“ Die Aktionen der Berliner Polizei gegen den toten Winkel seien gut, aber zu punktuell. „Bei der Mobilitätserziehung ist etwa Hamburg deutlich weiter als Berlin.“

Wie groß die Wissenslücken sind, zeigt eine Untersuchung der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt): Selbst von den befragten Radlern wussten nur 27 Prozent, dass lediglich die beschilderten Radwege benutzt werden müssen. Zum Zeitpunkt der Umfrage 2009 galt die Regel schon zwölf Jahre. Die geänderte Vorschrift sollte Radler auch von jenen Radwegen holen, die scheinbar sicher hinter Hecken oder geparkten Autos verlaufen – und umso gefährlicher sind, wenn sie „unsichtbar“ auf Kreuzungen treffen. Selbst in Berlin werden solche Radwege – entgegen dem Gesetz – neu zur Benutzung vorgeschrieben; etwa in der Potsdamer Straße, wo die Verkehrslenkung des Senats (VLB) vage auf Sicherheitsprobleme durch Lieferverkehr verweist. Anwalt Karnetzki spricht von „Sauriern“ in der Behörde.

Die VLB gilt bei der Radler-Lobby seit jeher als wenig fahrradfreundlich. Dass es so lange dauert, bis Unfallschwerpunkte entschärft werden, hat aber auch andere Gründe: Nur nach und nach arbeitet die mit Senats- und Bezirksvertretern, Polizei und dem Fahrradbeauftragten besetzte Unfallkommission die Brennpunkte ab. Und wenn eine Lösung gefunden ist, fehlt es oft an Geld und Personal in den Ämtern.

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