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Berlin: „Berliner, reiht Euch ein!“

Mit Theaterstücken auf Straßen und Plätzen inszenieren Künstler den Volksaufstand zum 50. Jahrestag neu

Damit haben die Leute, die in den Hackeschen Höfen sitzen und am Milchkaffee nippen, nicht gerechnet: Plötzlich ist der Aufstand da. Die Arbeiter begehren auf, marschieren in die Höfe und singen laut: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit…“ Ein kräftiger junger Mann tritt aus der Gruppe hervor und brüllt: „Berliner, reiht Euch ein, wir wollen freie Menschen sein!“ Dann verteilen die „Aufständischen“ Faltblätter, die für die „Lange Nacht des 17. Juni 1953“ im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen werben.

Die Werbeaktion ist eine Idee von Günter Jeschonnek. Er ist Projektleiter der Veranstaltungsreihe zum 50. Jahrestag des Aufstands in der DDR. Höhepunkt der Aktionen, die vom Tagesspiegel präsentiert werden, soll am 16. und 17. Juni die Uraufführung eines multimedialen Theaterstückes sein.

„Wir wollen Geschichte erlebbar machen“, sagt Jeschonnek. Gerade die jüngere deutsche Geschichte liegt dem Berliner Autor und Regisseur am Herzen, weil sie kaum präsent sei in der Gesellschaft. Auch der Aufstand von 1953 sei in Vergessenheit geraten: Der Protest wurde in der DDR bis 1989 diskreditiert, in der Bundesrepublik trat er hinter einem ritualisierten Feiertag zurück. „Dabei waren am 17. Juni mehr Leute auf den Straßen als am 9. November 1989“, sagt Jeschonnek, der 1987 zwangsweise aus der DDR-Staatsbürgerschaft entlassen wurde und nach West-Berlin ausreiste.

Die Theaterinszenierung, von der Jeschonneks Darsteller – die meisten sind Studenten der Berliner Schauspielschule Reduta – jüngst eine 15-minütige Kostprobe in den Hackeschen Höfen gaben, erzählt die Geschichte des 17. Juni 1953. Authentisch soll die Inszenierung sein. Und deshalb ist sie multimedial: Originale Ton-, Bild- und Videosequenzen unterstützen die Vorführung. Drei Akte hat Jeschonnek geschaffen: Der Hauptakt, in dem es um den 16. und 17. Juni geht, wird umrahmt von der Darstellung der gesellschaftspolitischen Situation der DDR. Die Sprechtexte hat Jeschonnek zum großen Teil aus authentischen Texten zusammengestellt, Fragmente sind aus den Werken des Dramatikers Heiner Müller entnommen. Zur Vorbereitung auf das Stück haben sich die jungen Schauspieler mit Zeitzeugen unterhalten und im Selbststudium das Geschehen von damals rekapituliert.

Nicht nur das Schauspiel und die Präsentation von Original-Quellen werden die Inszenierung prägen. Die Darsteller tragen ihre Biografien und ihre Einstellung zum 17. Juni vor. Komponist Willy Daum experimentiert mit Akkordeonmusik und Metallklängen, eine selbst gedrehte Videosequenz lässt willkürlich befragte Menschen über den 17. Juni sinnieren, am Ende sollen Zeitzeugen zu Wort kommen – in einem Film, der noch im Hohenschönhausener Gefängnis gedreht werden soll. Und natürlich: Das ehemalige Stasi-Gefängnis, in dem viele Demonstranten des 17. Juni einsaßen, dient als bedrückend- zeitgeschichtliche Kulisse.

Während der „Langen Nacht des 17. Juni 1953“ werden zusätzliche Führungen durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen angeboten. Am Montag, den 16. Juni, wird um 21 Uhr die zeitgenössische Sinfonie „Der Aufstand“ von Leon Buche, der bereits im Alter von 14 Jahren eine Harry-Potter-Sinfonie komponiert hatte, uraufgeführt.

Aber schon lange vor der „Langen Nacht“ wird in Berlin der Aufstand hautnah nachgestellt. Einzelne Ereignisse des niedergeschlagenen Protests setzen die Schauspieler in den kommenden Tagen an authentischen Orten in Szene: am 3. Juni am Pariser und Potsdamer Platz sowie am Bundesfinanzministerium in der Leipziger Straße, am 10. Juni am Rathaus Schöneberg, am Alexanderplatz und am Kino International an der Karl-Marx-Allee.

Karten für „Die Lange Nacht des 17. Juni 1953“ gibt es bei Ticket-Online, Telefon 308785685 und an allen bekannten Vorverkaufsstellen; Info-Telefon: 986082424 .

Mirco Stodollick

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