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© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Schulen: Wann ist die Sonderschule die richtige Wahl?

Manche Jugendliche haben besondere körperliche oder geistige Probleme. Seit Jahren wird um ein Konzept für sie gestritten: Soll man sie in Regelklassen integrieren oder auf Sonderschulen schicken? Gibt es eine generelle Lösung?

Paula ist meistens die Erste, die sich meldet. Sie weiß, wie es zur Gründung des Deutschen Reichs kam, warum Kaiser Wilhelm II. kein Freund der Demokratie war und kennt sich aus mit den sozialen Verwerfungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wow! Paula ist bestimmt die Klassenbeste, denkt die Besucherin. Paula* scheint die Stütze der Lehrer zu sein, wenn sonst keiner der Neuntklässler den Mund aufbekommt.

Das Mädchen geht in die neunte Klasse der Schöneberger Sophie-Scholl-Oberschule, einer integrierten Gesamtschule. Hier kann man alle Abschlüsse machen, vom Hauptschulzeugnis bis zum Abitur, je nachdem, wie sich die Leistungen entwickeln. In der neunten Klasse von Paula, die an diesem Nachmittag in Geschichte unterrichtet wird, lernen nur 23 Jugendliche, nicht 32, wie in den Parallelklassen. Denn in dieser Klasse haben manche der 15-Jährigen mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen. Einige haben eine sogenannte Lernbehinderung, ein Mädchen hört schlecht, ein anderes hat Probleme beim Gehen. Sie sind die sogenannten Integrationsschüler mit besonderem Förderbedarf. Wer die vier sind, verrät die Lehrerin nicht. Die Besucherin möge selbst beobachten.

Ein Blick in Paulas Heft verrät, dass auch sie eines der Förderkinder ist. Paula kann aufgrund motorischer Schwierigkeiten kaum schreiben und lesen. Dass sie trotzdem so viel weiß, liegt daran, dass sie sich für so viel interessiert. Sie hat Eltern, die ihr viel erklären und viel mit ihr unternehmen. Paula profitiere auch, weil sie sich an den Guten in der Klasse orientiere, sagt Klassenlehrerin Lia Raber. „Paula wäre auf einer Sonderschule verloren. Da würde sie zu wenig Anregungen bekommen.“

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Lehrerin Lia Raber unterrichtet Jugendliche mit und ohne besonderen Förderbedarf. -

© Kitty Kleist-Heinrich

Die Frage, welche Form von Oberschule für ein behindertes Kind die richtige ist, zielt auf ideologisch vermintes Gelände. Seit 30 Jahren kämpfen Anhänger der Integrationstheorie, also diejenigen, die wollen, dass Kinder mit besonderem Förderbedarf an normalen Regelschulen unterrichtet werden, gegen Verfechter der Sonderschule und umgekehrt. Was in den Augen der einen ein Vorteil ist, legen die anderen als Nachteil aus.

Ulf Preuss-Lausitz, Erziehungswissenschaftler an der Technischen Universität, ist Verfechter des Integrationsmodells. Er ist überzeugt, dass Kinder auf der Sonderschule das Gefühl hätten, schon allein durch die Schulform stigmatisiert zu sein, was ihre Motivation zu lernen beeinträchtige. Deshalb ist er dafür, dass solche Kinder in Regelklassen gemeinsam mit anderen Jugendlichen ohne Einschränkungen lernen.

Lehrer der Sonderschulen hingegen argumentieren, dass gerade in dem geschützten Raum einer Sonderschule Jugendliche motivierter sind, als wenn sie in einer „normalen“ Schule frustrierende Erlebnisse machen. Auf den Sonderschulen würden sie mehr Selbstbewusstsein entwickeln, was ihnen im späteren Berufsleben helfe. Auch könnten die Kinder auf einer Sonderschule individueller gefördert werden, da die Lehrer und Erzieher speziell für die Bedürfnisse von Förderkindern ausgebildet sind. Der Kontakt zu den Eltern sei intensiver, weil man sich mehr Zeit nehmen könne.

In der westlichen Welt hat sich das Integrationsmodell durchgesetzt. Auch in Berlin schien es vor fünf Jahren so, als sei die Sonderschule ein Auslaufmodell. Denn im Schulgesetz wurde 2004 der Vorrang des gemeinsamen Unterrichts in einer Regelschule festgeschrieben. Eltern haben das Recht, sich eine Oberschule auszusuchen, an der ihr Kind gemeinsam mit anderen nicht behinderten Kindern unterrichtet wird. Theoretisch.

Praktisch ist dies aber nur dann möglich, wenn die Schule bei der Schulverwaltung durchsetzen kann, dass ihr für die spezielle Förderung des Kindes auch zusätzliche Lehrer genehmigt werden. Handelt es sich um ein körperlich behindertes Kind, braucht die Schule zum Beispiel auch einen Aufzug. Eltern können nicht verlangen, dass solche oft sehr teuren Umbauten wegen eines einzigen Kindes vorgenommen werden. Nach Auskunft der Schulverwaltung haben sie aber das Recht, dass ihnen der Bezirk eine Ausweichschule anbietet, in der es vielleicht schon eine Integrationsklasse gibt, die auf Förderkinder vorbereitet ist.

Auch fünf Jahre nach der Einführung des neuen Schulgesetzes besucht die Mehrheit der Oberschüler mit Förderbedarf eine Sonderschule, besonders im Ostteil der Stadt. Berlinweit gehen 11 630 Jugendliche auf eine Sonderschule, 7672 auf eine Regelschule. In Marzahn besuchen 90 Prozent der Schüler mit Lernschwierigkeiten eine Sonderschule, in Hellersdorf 89 Prozent, in Steglitz nur 40 Prozent. Das hat auch Traditionsgründe: In der DDR kamen förderbedürftige Kinder automatisch auf Sonderschulen.

Eine Studie von Rainer Lehmann, Erziehungswissenschaftler an der Humboldt-Universität, ergab jetzt, dass der Besuch einer Sonderschule wohl gar nicht so verkehrt ist. Er hat den Leistungsstand von 4481 Schülern mit Lernproblemen in den Klassen 7 bis 10 an 97 Regelschulen und Sonderschulen verglichen. Es stellte sich heraus, dass die Jugendlichen auf den Sonderschulen bessere Leistungen erzielen, besonders, wenn es sich um Schulen handelt, die ihren Unterricht am praktischen Leben orientieren, zum Beispiel durch Schülerfirmen. „Selbst 16-, 17- und 18-Jährige können sich noch entwickeln, wenn sie auf eine Sonderschule gehen“, sagt Lehmann. Er weist aber auch darauf hin, dass die Zahl der befragten Schüler noch nicht groß genug sei, um wirkliche Aussagen zur Überlegenheit des einen oder anderen Modells zu machen. Mit dem Vorrang der Integration, die im Schulgesetz verankert ist, scheint es die Schulverwaltung seit Lehmanns Studie nicht mehr so ernst zu nehmen. „Ich meine nicht, dass es nur einen Königsweg gibt“, sagte Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) kürzlich. Sowohl das gemeinsame Lernen in der Regelklasse als auch die Sonderschule könnten gleichermaßen erfolgreich sein.

Was kann man Eltern also raten? Entscheidend ist, welche ganz speziellen Bedürfnisse und Möglichkeiten das einzelne Kind hat. Paula wäre wegen ihrer motorischen Schwierigkeiten auf einer allzu praktisch orientierten Sonderschule sicher verloren. Anderen Jugendlichen, die motorisch sehr geschickt sind und große Schwierigkeiten beim Lernen von theoretischem Stoff haben, käme der Unterricht in der Sonderschule vielleicht eher entgegen.

Für die aufgeschlossene, freundliche Paula ist es kein Problem, trotz ihrer Schwierigkeiten, ganz normale Freundschaften in ihrer Klasse zu schließen. Anderen fällt dies aufgrund ihrer Einschränkungen nicht so leicht. Für sie könnte tatsächlich der geschützte Raum einer Sonderschule besser sein.

„Wir bemühen uns, dass jedes Kind individuell gefördert wird“, sagt Lia Raber. Wie schwierig das sein kann, zeigt ein Gespräch zwischen Lia Raber und einem Lehrerkollegen nach der Geschichtsstunde. Welche Noten sollen sie den Förderkindern geben? Wie realistisch sollen sie sein, verglichen mit den Noten der anderen Mitschüler? Soll der große Fleiß des schwerhörigen Mädchens durch einen Bonus belohnt werden, auch wenn der Fleiß nicht zu einer tatsächlichen Steigerung der Leistungen geführt hat? Ist der Bonus kontraproduktiv, weil er die Konfrontation mit der Realität nach der Schule dann nur umso schlimmer macht? Viele Fragen. Einfache Lösungen gibt es bei diesem Thema nicht.

* Name von der Redaktion geändert

Folge 4:

SONDERSCHULE – JA ODER NEIN?

Die anderen Themen

Klasse 5 oder 7: Lieber eher aufs Gymnasium? (13. 1.)

Der Weg zur Wunschschule: Wenn Eltern tricksen (15. 1.)

Hauptsache exotisch: Die Qual der richtigen Sprachwahl (20. 1.)

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