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BERLINS PFLEGEEINRICHTUNGEN STELLEN SICH DEM VERGLEICH Letzte Folge: Die Tabelle für Mitte: Momentaufnahmen

Wochenlang waren die Mitarbeiter des Tagesspiegel für den Pflegeheimvergleich unterwegs Bei ihren Besuchen vor Ort haben sie tragische, anrührende und komische Geschichten erlebt

Rund 290 Pflegeheime gibt es in Berlin – mehr als 250 davon haben sich am Großen Pflegeheimvergleich des Tagesspiegel beteiligt: Das sind fast 90 Prozent und deutlich mehr, als zu Beginn der Serie erwartet. 22 Einrichtungen haben sich erst nach dem Ende der Datensammlung nachträglich entschlossen mitzumachen. 94 Pflegeheime gaben an, seit 2005 eine routinemäßige Prüfung durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) gehabt zu haben. 86 von ihnen legen diese Berichte für Interessierte offen – das sind wiederum 90 Prozent. In nahezu jedem einzelnen dieser Heime haben wir die Eigenangaben zu den Kontrollergebnissen in den Berichten überprüft. Fast immer war es danach nötig, die Angaben zu ändern – bei einer Handvoll Häuser auch zu deren Gunsten. Rund 100 Pflegeheime haben die beteiligten Mitarbeiter des Tagesspiegel während der Vorbereitung des Pflegeheimvergleichs besucht. Was sie dabei erlebten, findet sich in den folgenden kleinen Geschichten.

Ein grauer Tag in diesem Herbst, eine Hauptstraße in Tiergarten. Die Tür des Pflegeheims an der großen Kreuzung ist fest verschlossen: „Komme gleich wieder“ steht auf dem Zettel am Eingang. Gegen 15 Uhr warten im Foyer der etwas heruntergekommenen Einrichtung bereits sieben Menschen darauf, das Haus nach einer Visite bei ihren Angehörigen wieder verlassen zu können. Es wird unbehaglich. Draußen begehren zwei Besucher Einlass, um ihren bettlägrigen Verwandten ein paar Blumen mitzubringen. Geduldig warten sie fast zehn Minuten auf dem Gehweg vor dem Heim, bis die Tür endlich wieder aufgeschlossen wird.

Es ist kalt in Lichtenberg. Die vier Damen in Rollstühlen interessiert das wenig. In Decken, Wollmützen und bunte Anoraks eingepackt, haben sie vor dem Eingang ihres Heimes geparkt und trinken Tee, den eine Pflegerin aus einer Thermoskanne serviert. „Gemütlich, oder?“, fragt eine der Frauen ihre Nachbarin durch den Dampf, der der Tasse in ihren gefalteten Händen entsteigt. „Na ja“, lautet die Antwort.

Der Flur ist beklemmend eng, die Treppe steil, die Wände fleckig. Im ersten Stock öffnet sich eine Tür in einen Aufenthaltsraum, in dem offenbar schon lange der Zigarettenqualm steht. Ein Dutzend Menschen sitzt um einen großen Pressholztisch herum. Einige sind über ein Brettspiel gebeugt, andere reden mit sich selbst, wieder andere starren nur leer vor sich hin. Allen gemein ist ihr etwas verwahrloster Eindruck. „Guten Tag, wir suchen die Heimleitung.“ 24 fragende Augen blicken uns an. Keine Antwort, kein Pfleger weit und breit.

Kurz nach 16 Uhr, Kaffeetafel. Die Bewohner werden unruhig. „Das gibt’s doch nicht“, stachelt eine Frau ihre Tischnachbarin im Rollstuhl an. „Guck mal, da hinten in der Küche steht doch schon der Kuchen. Warum verteilen die den nicht? Der vergammelt doch nur. Los, sag doch mal was!“

Anfang November, eine Demenzstation in Berlin. Eine Bewohnerin, die lange im Rotlichtmilieu gearbeitet hat, glaubt, in einer Besucherin eine alte Bekannte wiedererkannt zu haben. Sie geht auf sie zu. „Du bist doch die Yvonne. Stehst du immer noch an der Gedächtniskirche?“ – ein Altberliner Straßenstrich. Das blanke Erstaunen der „Wiedererkannten“ deutet sie als Zustimmung. Dann beginnt sie aus einer bunten Zeitschrift Werbeanzeigen auszureißen, auf denen sie Verwandte, Bekannte und Freunde zu erkennen glaubt. „Hier, mein Mann“, sagt sie und trennt eine Anzeige für ein Wellnesshotel aus der Zeitschrift heraus.

Kniestrümpfe, Lederhosen, Hüte mit Gamsbart auf dem Kopf. Der Alleinunterhalter aus Wittenberge hat sich für seine musikalische Darbietung von „In München steht ein Hofbräuhaus“ in Schale geworfen. Sein Publikum: vier Dutzend Heimbewohner. Das Lied passt zum Anlass: „Bockbierfest“ im Speisesaal steht auf dem Programm. Wer will, kann aber auch Sekt oder Wein haben. Der Stimmung hilft’s. Kurze Zeit später wird zu „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ getanzt – und wer nicht tanzen kann, der schunkelt halt mit.

8 Uhr früh, die Leiterin des Hauses ist hilfsbereit und auskunftsfreudig. Beeindruckender als ihre zuvorkommende Art ist nur ihre Alkoholfahne.

Der Blick des Rollstuhlfahrers ist starr auf seine Füße gerichtet. Stückchen für Stückchen arbeitet er sich mit ihnen durch den engen Flur vorwärts. Die Frau, die im Gang steht und ein Bild an der Wand betrachtet, sieht er nicht. Vielleicht will er sie auch nicht sehen. Dann knallt er mit seinem Rollstuhl in ihre Beine. Erschrocken springt die Frau zur Seite. „Entschuldigung“, ruft sie. Keine Reaktion. Eine Pflegerin kommt hinzu: „Herr Wuppke, wo wollen Sie denn hin?“ - „Wonach sieht’s denn aus? Spazieren gehen will ich!“ Aha: „Aber doch nicht in Ihren Hausschuhen.“ Dann packt sie den Rollstuhl, dreht ihn auf der Stelle herum und schiebt ihn zurück in den Gemeinschaftsraum.

Tabu: Sex im Alter. Auch Hochbetagte wollen Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Und es passiert auch, dass sich Paare erst im Heim zusammenfinden. Doch in einem Pflegeheim – besonders im Mehrbettzimmer – fehlt es an der dafür notwendigen Privatsphäre, für den Rest des Lebens. Manche Pflegekräfte sind überfordert, wenn sie einen Bewohner beim Masturbieren „erwischen“. Die wenigsten Heime haben Konzepte, um auf solche menschlichen Grundbedürfnisse einzugehen. In einem Charlottenburger Pflegeheim jedoch hat die Heimleiterin keine Angst, darüber nachzudenken. „Ich würde gern einen Begegnungsraum für solche Gelegenheiten einrichten“, erzählt die knapp 40-jährige Berlinerin. „Ich hätte auch nichts gegen eine Art Regel, die es Bewohnern ermöglichen würde, sich eine Prostituierte hierher einzuladen – natürlich müssen sie dann selber zahlen.“ Noch fehle es beim Heimbetreiber aber an der Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen. „Die Zeit ist wohl nicht reif für so viel Toleranz.“

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