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Berlin: Bernd Zimmare (Geb. 1942)

Sonntags aus Leipzig fort, freitags wieder zurück, immer über Berlin.

Er kommt in Leipzig zur Welt, ein Jahr, bevor Bomben auf die Stadt fallen. In den Friedenszeiten darauf darf Bernd bisweilen seine begüterte Tante in der Schweiz besuchen. Eine Reise ins Schlaraffenland. Nirgends Ruinen, Schutthaufen, hohlwangige Gestalten. Dafür intakte Häuser, Blumenbeete, reiche Auslagen in den Schaufenstern. Bernd schaut und staunt und lässt sich beschenken von seiner Tante. Eine echte Jeans. Er muss zurück nach Leipzig, das Schweizer Bild fest in seinem Kopf. Er geht in die Schule mit der neuen dunkelblauen Hose. Der Lehrer schickt ihn umgehend nach Hause: Zieh dich sofort um, dieses verdorbene Zeug aus dem Westen wollen wir hier bei uns nicht. Bernd gehorcht. Doch was soll er anziehen, in seinem Schrank liegen nur zu kurze, löchrige Hosen, das bisschen, was seine Mutter in der Fabrik verdient, reicht weder hinten noch vorne. Der Vater lebt nicht mehr bei ihnen, oft isst und spielt Bernd bei seiner Großmutter.

Er lernt Stahlbauschlosser, bekommt eine Anstellung in Bad Freienwalde, fährt sonntags aus Leipzig los, freitags wieder zurück, immer über Berlin. Er sitzt im Zug, schon gewöhnt an den Anblick der Familien mit den Koffern, den zusammengeschnürten Bettdecken und ängstlichen Gesichtern, wenn die Kontrolleure nach den Pässen fragen. Tastet dann nach der Arbeiterrückfahrkarte in seiner Tasche, damit könnte er unbehelligt in den Westen rüberfahren, einfach dort bleiben. Das denkt er immer öfter, seine Reisen in die Schweiz fallen ihm ein.

Im Februar 1961 entschließt er sich endlich. Er hat die Einberufung zur Nationalen Volksarmee bekommen. Niemand weiß Bescheid, nicht seine Mutter, nicht seine Großmutter. Nur sein Freund Manne. Gemeinsam wollen sie fliehen. Aber Manne überlegt es sich anders, in letzter Minute, Bernd schenkt ihm sein Rennrad und einen Pullover und macht sich auf den Weg. Zuerst nach Berlin-Marienfelde, ins Aufnahmelager, drei Tage später nach Gießen. Dort wohnt sein Vater.

Bernd zieht zu ihm, arbeitet als Lüftungsmonteur. Muss beruflich nach Schleswig-Holstein. Trifft Gerda.

Wieder liegt eine Einberufung im Briefkasten, diesmal zum Bund. Bernd und Gerda gehen nach Berlin. Heiraten, was nicht unkompliziert ist, denn seine ganzen Papiere hat Bernd in Leipzig gelassen. Sie bekommen eine Tochter, Michaela, einen Sohn, Frank. Bernd wird leitender Monteur bei der Firma Linde. Macht sich bald mit zwei Kollegen selbstständig.

Die Familie wohnt in einer Wohnung mitten in der Stadt, hier und da ein Baum, ein Streifen zertretenes Gras vor dem Haus. Ein wenig grüner und heller sollte es schon sein, auch für die Kinder, überlegen Bernd und Gerda und finden ein Stück Land mit einem zerfallenen Häuschen in einer Gartenkolonie an der Roedernallee. Nach und nach bringen sie das Häuschen in Schuss, bauen eine winterfeste Terrasse mit Kamin an, bauen die Küche aus, pflanzen Hecken und Blumen, die Kinder pflügen lachend durch das himmelblaue Wasser im Swimmingpool. Wie es in der Stadtwohnung aussah, daran kann sich niemand mehr genau erinnern.

„Was könnte ich als Nächstes in Angriff nehmen?“, fragt Bernd Gerda, nachdem er das Bad ein drittes Mal umgebaut hat. „Vielleicht eine Fußbodenheizung fürs Wohnzimmer?“

Wenn Bernd nicht arbeitet oder im Haus werkelt, reist er mit Gerda um die halbe Welt. In die Karibik, nach Südamerika, vier Mal nach Thailand, 15 Mal in die Türkei, oft mit Shawnee, der Enkeltochter, sie darf sich immer aussuchen, wohin es gehen soll.

Heute reist sie allein mit ihrer Großmutter. Ihr Großvater liegt auf einem Friedhof in der Nähe der Gartenkolonie, neben ihm ein anderer Laubenpieper. Kürzlich erst hat sein alter Freund Manne aus Leipzig den Pullover, den Bernd ihm vor 48 Jahren geschenkt hat, aussortiert. Tatjana Wulfert

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