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Mondäne Gegend. Der Tauentzien bei Nacht, fotografiert 1937.

© Heinz Fremke/ullstein bild

Deutsch-Französisches Berlin: Frau Frenkel zog die Kulturelite an

Sie kam aus Polen, war Jüdin, liebte Frankreich. Françoise Frenkel bezauberte in ihrem „Maison du Livre“ das Berlin der Vorkriegsära. Was ist geblieben vom frankophilen Geist jener Jahre? Eine Spurensuche im Hier und Jetzt.

Madame, schreit einer, kommen Sie schnell, die schmieren Ihnen das Schaufenster voll!

Als Françoise Frenkel vor die Tür ihres Ladens tritt, sieht sie junge Männer, einen Leimtopf, einen langen Pinsel, Zettel mit Beleidigungen.

„Was macht ihr da?“

„Wir erfüllen Befehle!“

Passauer Straße, Berlin-Schöneberg, an der Grenze zu Charlottenburg. Hier irgendwo muss sich das abgespielt haben. Hier muss damals jenes „nicht arische“ Geschäft beschmiert worden sein, das „ausländische Propaganda“ verbreitete, vom „Erbfeind“ Frankreich. Und hier irgendwo muss Françoise Frenkel im Ladeneingang gestanden und den Mut gefunden haben, zu rufen:

„Hört sofort auf damit!“

Mutig war Frenkel, weil ihr nicht nur die französische Buchhandlung gehörte, die auf der Liste zu beschmierender Läden stand, sondern weil sie polnische Jüdin war, weil man das Jahr 1933 schrieb und die Jungs vor der Tür von der Hitlerjugend kamen. Die aber betrachteten nun genauer das Schaufenster. Bis einer von ihnen sagte:

„Halt, das ist ja ein ausländischer Laden! Hat keinen Sinn weiterzumachen, Kameraden. Los, wir gehen!“

Heute führt die Suche nach diesem Buchladen, dem „Maison du Livre Français“, zum KaDeWe. Man läuft vorbei an Drogerie- und Bäckereiketten, einzig das ikonisch geschwungene „Leiser“-Schild, „Internationale Schuhmode seit über 125 Jahren“, erinnert noch an die Zeit vor dem zweckmäßigen Wiederaufbau Berlins. In der Passauer Straße 39a soll der Buchladen einmal gewesen sein. Also vom Tauentzien in die Passauer eingebogen, vorbei an den KaDeWe-Schaufenstern, Louis Vuitton, Prada, Nespresso, KaDeWe-Apotheke, KaDeWe-Reisecenter, KaDeWe-Parkhaus. Passauer Straße 37, dann 38, dann, da, wo die 39 kommen müsste: „Contipark – 80 Cent die Stunde“. Hier geht es erst mal nicht weiter.

Das Maison du Livre war der erste französische Buchladen der Reichshauptstadt und blieb vor dem Krieg auch der einzige. Ein Ort des Geistes in einer immer geistloseren Stadt, ein Ort der Wärme im rauen Klima von Weimarer Republik und Nationalsozialismus. Heute, 77 Jahre nachdem die Inhaberin ihren Laden zurücklassen musste, steht ein Parkhaus des KaDeWe in der Passauer Straße 39a – keine Spur von Frankreich, keine Spur von Geist.

Ein Flohmarkt in Nizza

Aber erst einmal zurück zum Anfang. Was sich dort abgespielt hat, mit der Hitlerjugend – wieso weiß man das so genau? Wie immer in guten Geschichten: durch einen Zufall. An einem Nachmittag im Jahr 2010 spaziert der französische Kinderbuchautor Michel Francesconi in Nizza über einen Trödelmarkt. Er durchwühlt Bücherkisten, und zwischen all den vergilbten, verstaubten Restposten springt ihm plötzlich etwas ins Auge. „Rien où poser sa tête“, steht auf dem Buchumschlag: „Nichts, um sein Haupt zu betten“.

Francesconi erkennt die biblische Anspielung, Lukas 9,58: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber des Menschen Sohn hat nichts, da er sein Haupt hinlege“. Der Schriftsteller besieht das Buch genauer, Verlag Jeheber, erschienen 1945 in Genf, die Autorin Françoise Frenkel sagt ihm nichts. Seite für Seite liest Francesconi, und mit jedem Umblättern wird ihm klarer, was für ein wichtiges Dokument er da in der Hand hält. Er kontaktiert den renommierten Verlag Gallimard. In dessen Imprint „L’arbalete“ erscheint das Buch 2015, exakt 60 Jahre nach der Erstveröffentlichung. Eine deutsche Übersetzung ist am 25. Juli erschienen, bei Hanser.

Wer ist aber diese Frau, diese schreibende Buchhändlerin? Noch vor Kriegsende vervollständigte sie ihren Tagebuchroman, ein Buch über eine Jüdin auf der Flucht, die überall so lange blieb, bis es nicht mehr ging, die jahrelang keinen Ort hatte, „um ihr Haupt zu betten“. Sie schrieb über ihre Flucht aus Berlin, über ihre Vertreibung aus dem Pariser Exil, über die Weiterreise nach Avignon, nach Annecy, schließlich nach St. Julien, wo sie sich im Pfarrhaus versteckte, dann im Friseursalon, bis sie am Ende festgenommen wurde, knapp der Deportation entging und bei all der Unruhe nie ihr Ziel aus den Augen verlor: die Schweiz.

Auch den Buchladen in Schöneberg beschreibt Frenkel in ihren Erinnerungen, als Zuflucht des französischen Geistes in Berlin. Seinen einstigen Standort hat sich das KaDeWe angeeignet, Akten gibt es von deutscher Seite keine mehr, von französischer nur vage Informationen.

So wie sie sich einst ihren Verfolgern entzog, entzieht sich Françoise Frenkel heute dem Suchenden. Es gibt kein einziges Foto von ihr, nicht im Buch, nicht in Archiven. Ihre Existenz ist nur durch ihre Erinnerungen und eine Handvoll Briefe von Kunden überliefert. Hieß sie nun Françoise oder Frymeta Frenkel? Im Buch nennt sie sich nur „F****“. Was tat sie zwischen dem Kriegsende und ihrem Tod 1975 in Nizza? Niemand weiß es. In ihrer Anonymität erinnert sie an Marta Hillers' „Eine Frau in Berlin“ oder Mai Lindegards „Ich bin eine norwegische Frau“, biografische, während der Kriegsjahre unter Pseudonym geschriebene Tatsachenromane.

Piotrków, Paris, Berlin

Einige Stationen Frenkels scheinen sicher. Geboren 1889 in Piotrków in der Nähe von Lódz, Tochter aus großbürgerlichem Hause. Sie studierte an der Sorbonne in Paris, arbeitete in der Bibliothèque Nationale, dann der Bibliothèque Saint-Geneviève, die sie ihren Lieblingsort nannte. Später absolvierte sie ein Praktikum bei einem Buchhändler in der Rue Gay-Lussac im 5. Arrondissement. Im Dezember 1920 packte sie ihre Koffer, darin, so schreibt sie, „Les Thibault“ von Roger Martin du Gard, „Les Croix de Bois“ von Roland Dorgelès, „Civilisation“ von Georges Duhamel. Bücher, die sie mitnahm, um Freunde „mit meiner Bewunderung für die reiche Blüte der französischen Literatur anzustecken“.

Sie suchte einen passenden Ort in Polen, um eine französischsprachige Buchhandlung zu eröffnen. In jeder polnischen Stadt aber gab es schon eine – oder gleich mehrere. Schon bereit aufzugeben und nach Paris zurückzukehren, stieg Frenkel in einen Zug, machte unterwegs Halt in Berlin, stieg aus, flanierte über die Hauptstraßen, Unter den Linden, Friedrichstraße, Leipziger Straße – und erkannte plötzlich: „Aber ihr habt gar keine französischen Bücher!“

Im französischen Generalkonsulat legte sie ihren Plan für eine Buchhandlung vor. „Aber, Madame“, erwiderte der Konsul, „Sie scheinen mir das politische Klima im gegenwärtigen Deutschland nicht zu kennen!“ 1920 in Berlin, das ist die Zeit nach der Kriegsniederlage, der gefühlten Schmach von Versailles, der ideologisch-politischen Spaltung. Doch im Gefühl, „im Dienste des französischen Geistes in Deutschland“ zu stehen, mietete Frenkel 1921 ein Zwischengeschoss in der Kleiststraße 13, „einem ruhigen Viertel abseits des Stadtzentrums“, um später „ins mondäne Viertel der Hauptstadt“ zu ziehen, nach Schöneberg, in die Passauer Straße.

Das Maison du Livre wird im Lauf der 20er und 30er Jahre zum wichtigsten Ort französischer Kultur in Berlin aufsteigen. Nobelpreisträger werden zu Gast sein, Botschafter und Ministerpräsidenten, Franzosen und Frankophile. Während der überwiegende Rest Berlins in nationaler Selbstherrlichkeit verpöbelt, wird in der Passauer Straße noch bis kurz vor Kriegsbeginn ein Ort der intellektuellen Auseinandersetzung strahlen.

Heute ist davon nichts übrig, Frenkels Laden ist verschwunden. Was aber ist aus ihrem Auftrag geworden, dem „Dienst am französischen Geist“? Führt jemand heute diese Tradition fort?

Kurfürstendamm, das Institut Français

Maison de France , Institut Francais , Kurfürstendamm, Ende Mai 2014. Foto: Cay Dobberke
Maison de France , Institut Francais , Kurfürstendamm, Ende Mai 2014. Foto: Cay Dobberke

© null

Wenige Laufminuten entfernt, am Kurfürstendamm 220, steht seit 1950 das „Maison de France“, in dem das Institut Français und das Cinema Paris untergebracht sind. Man betritt hier einen seltsam nach Geschichte riechenden Ort, einen Altbau, der nach dem Geschmack der „Neuen Sachlichkeit“ umgebaut wurde. Ein paar Besucher stehen in den weiten Räumen, man spricht Französisch, gerne auch mit deutschem Akzent. Im zweiten Stock empfängt Fabrice Gabriel, der Leiter des Institut Français. An der Wand seines Büros hängt eine Postkarte mit der Aufschrift: „Ich bin nicht zum Spaß hier.“

Sind Sie, Herr Gabriel, vielleicht nicht zum Spaß, sondern im Auftrag des französischen Geistes hier, so wie einst Frau Frenkel?

„Natürlich fühlen wir uns diesem Auftrag verbunden“, sagt Gabriel. „Aber viel wichtiger ist das, was die Berliner Bevölkerung mitbringt.“ Vor der Recherche zu Frenkels Buch, an der Gabriel mitgewirkt hat, habe er nie vom Maison du Livre gehört, was ihn wundere. Das kosmopolitische Berlin jener Zeit aber, das Berlin der Literatur, der Kunst, sei noch immer spürbar. „Das Institut soll einen Markplatz bieten“, sagt Gabriel, „für einen intellektuellen Austausch, einen europäischen Geist.“ Einen Ort des Zusammenkommens möchte er anbieten, nicht nur für Franzosen, die etwa die Hälfte der Besucher ausmachen, sondern für alle Berliner, egal woher.

Im französischsprachigen Austausch, in der Sprache und ihrer intellektuellen Tradition sieht Gabriel den französischen Geist am Werk. Die Rolle der unangefochtenen europäischen Kultursprache mag das Französische eingebüßt haben, nicht aber seine Anziehungskraft.

Das Interesse an Sprachkursen nimmt in Berlin seit Jahrzehnten stetig zu, aktuell lernen am Institut Français 2000 Schüler pro Jahr. Europaweit belegt Französisch nach Englisch und Spanisch den dritten Platz unter den meistgewählten Fremdsprachen. Zwölf Prozent der EU-Einwohner sind Muttersprachler, weitere elf Prozent beherrschen Französisch als Zweitsprache – nur Englisch und Deutsch sind in der EU noch verbreiteter. Bei einer Umfrage unter deutschen Schülern belegt Französisch Platz vier unter den „sympathischsten“ Sprachen, der französische Akzent beim Deutschsprechen wird sogar als der sympathischste von allen bewertet, noch vor dem italienischen.

Wer an warmen Sommerabenden am Landwehrkanal entlangläuft, hört ihn zwangsläufig. Rund 30.000 Franzosen leben offiziell in Berlin, ungezählte weitere wohnen als Studenten oder Freiberufler unangemeldet in Berliner WGs. Auch der kulturelle Austausch ist enorm. Das Institut Français hat 20 Niederlassungen in Deutschland, allein in der Berliner Filiale stehen 80 000 Bücher in der Mediathek, es gibt hier Mitarbeiter, die sich ausschließlich mit dem kinematografischen Austausch beschäftigen, dem literarischen, mit der Kooperation bildender Künstler.

Schöneberg, die Zuflucht

Vor 80 Jahren sah das anders aus. Neben dem „Service des l’œuvres françaises à l’étranger“, der aus dem Propagandaministerium im Ersten Weltkrieg erwuchs, gab es für den kulturellen Austausch im Grunde nur das Maison du Livre, den polnisch-jüdisch geführten französischen Buchladen in Schöneberg. Über die Jahre fühlte Françoise Frenkel sich immer mehr berufen, die französische Kultur und ihre Sprache und Lebensart zu verbreiten, die sie selbst in Polen und beim Studium in Paris kennengelernt hatte. Je kälter und brutaler es in Deutschland zuging, desto mehr wurde der Schöneberger Buchladen für Frenkel und ihre Kunden zum Zufluchtsort.

Im Oktober 1927 betritt ein junger Mann die Buchhandlung, Pierre Bertaux heißt er. Er ist der erste französische Student der Humboldt-Universität nach dem Ersten Weltkrieg. Bertaux studiert Germanistik, mit seiner Dissertation über Hölderlin wird er später der jüngste Doktor Frankreichs werden. Als er Frenkels Laden betritt, ist er ein Student, der nach Orten des französischen Lebens in Berlin sucht.

„Ich wurde erwartet“, schreibt Bertaux in einem Brief. „Der Inhaber und die Inhaberin des Ladens sind Russen oder so was. Ein merkwürdiger und beunruhigender Eindruck: ein Raum mit diesen beiden, die wie Bestattungsunternehmer dort stehen.“ Frenkel, die Inhaberin, bezeichnet Bertaux im selben Brief als „die alte Schreckschraube des Maison du Livre“. Für den Laden selbst hat er mehr Sympathie übrig: „Ein kleines Sortiment ziemlich guter Bücher.“

Obwohl er den spröden Charme eines Bestattungsinstituts versprüht haben soll, wird der Laden, in dem Frenkel für sechs Mark pro Dreiviertelstunde auch Sprachkurse anbietet, allmählich zum wichtigsten Ort der frankophonen Gesellschaft in Berlin. Die besteht damals zu großen Teilen aus Russen, die nach der Oktoberrevolution vor den Bolschewiken geflohen sind.

Es ist der Höhepunkt der „Charlottengrader“ Zeiten, der russische Dichter Andrei Bely notiert damals: „Man zog in die Passauer Straße, Ecke Wittenbergplatz, neben dem berühmten KaDeWe.“ Dort ansässig waren ein russisches Delikatessengeschäft, eine russische Bar, der Verein russischer Immigranten, das russische Modehaus „Petersburg“, die russische Kneipe „Tscherkess“, eine russische Pension, eine russische Leihbibliothek. Maxim Gorki, Ilja Ehrenburg, Marina Zwetajewa, Wladimir Majakowski, Boris Pasternak und Vladimir Nabokov verkehrten hier. „Es riecht nach Russland“, befand Bely, man „trifft hier ganz Moskau und ganz Petersburg“.

Es wäre ein Wunder, hätten sich die russischen Emigranten, von denen viele besser Französisch als Deutsch sprachen, nicht auch hin und wieder in Frenkels Maison du Livre eingefunden. Im Vorwort von „Nichts, um sein Haupt zu betten“ schreibt der Literaturnobelpreisträger Patrick Modiano: „Es genügt, Nabokovs Berliner Erzählungen und Romane zu lesen, um Françoise Frenkels Spur in Berlin wiederzufinden.“ Und richtig, in „Die Gabe“ von 1938 schreibt Nabokov: „Er überquerte den Wittenbergplatz und lenkte seine Schritte zu der Buchhandlung … Es brannte noch Licht – sie versorgte die nächtlichen Taxifahrer mit Büchern.“

Passauer Straße, die Russen und die Franzosen

Charlottengrad. In den 1920ern herrscht reges russisches Kulturleben rund um die Passauer Straße. Ein Akteur: Maxim Gorki.
Charlottengrad. In den 1920ern herrscht reges russisches Kulturleben rund um die Passauer Straße. Ein Akteur: Maxim Gorki.

© ullstein bild

Laut Umfrage einer französischen Kulturstiftung machten um das Jahr 1933 herum die rund einhunderttausend russischen Flüchtlinge in Berlin einen Großteil der Kundschaft für französische Bücher aus. Als Sprache der Intellektualität, des Geistes und der Schönheit war Französisch damals in bürgerlichen Familien europaweit verbreitet. Im zunehmend ausländer- und intellektuellenfeindlichen Berlin der 1930er Jahre kam dem Maison du Livre eine immer größere Bedeutung zu: Françoise Frenkels Buchladen in der Passauer Straße wurde mehr und mehr zu einem Ort der intellektuellen Selbstvergewisserung.

„Bekannte Künstler, Stars, Frauen aus der feinen Gesellschaft beugen sich über die Modezeitschriften, sprechen leise, um den Philosophen nicht zu stören, der in einen Pascal vertieft ist“, so beschreibt Frenkel selbst die Atmosphäre des Buchladens. „Neben einem Glasschrank blättert ein Dichter ehrfurchtsvoll in einer schönen Verlaine-Ausgabe, ein Gelehrter mit Brille studiert den Katalog einer wissenschaftlichen Verlagsbuchhandlung, ein Gymnasiallehrer hat vor sich vier Grammatiken gestapelt und vergleicht mit großem Ernst die Kapitel über die Veränderlichkeit des Partizips, wenn diesem ein Infinitiv folgt.“

Die hohen Damen der Gesellschaft gingen im Laden ein und aus, am Abend wurden Chansons gespielt, Gedichte gelesen, kleine Theaterstücke aufgeführt. Hinzu kam Laufkundschaft. Das „mondäne Viertel der Stadt“, wie es Frenkel nannte, war nicht nur die Heimat der exilrussischen Intelligenzija, sondern auch der Literatur. Ernst Rowohlt führte seinen Verlag in der Passauer Straße 8, der Avantgarde-Verlag Malik hatte seinen Sitz in der Passauer 3, die Redaktionsräume der „Literarischen Welt“ befanden sich in der Passauer 34. Antonin Artaud wohnte in der Straße, Gottfried Benn, Klabund und Carola Neher.

Ganz zu schweigen von den französischen Geistesgrößen, die in Frenkels Laden ein und aus gingen. Der Schriftsteller und Résistance-Kämpfer Benjamin Crémieux traf sich hier mit dem Surrealisten René Crevel. Die späteren Literaturnobelpreisträger André Gide und Roger Martin du Gard, der Goncourt-Preisträger Henri Barbusse, die Schriftsteller Philippe Soupault, Claude Anet, André Maurois und Maurice Dekobra hielten Lesungen, zu Gast waren der Schriftsteller George Duhamel, der Begründer der französischen Germanistik Henri Lichtenberger, die Schriftstellerin und Varietékünstlerin Madame Colette. Selbst der französische Ministerpräsident und spätere Friedensnobelpreisträger Aristide Briand besuchte Françoise Frenkel im September 1931, um ihr seine Anerkennung auszusprechen.

Politische Diskussionen verbat sich Frenkel allerdings, nachdem eines Tages zwei Besucher in ihrem Laden heftig aneinandergeraten waren. Überhaupt hielt sie politischen Streit für eine „Büchse der Pandora“, sie verstand sich als Botschafterin Voltaires und Molières, nicht als Plattform für Kommunisten, Sozialisten, Nationalisten oder auch Demokraten.

Linienstraße, der Nachfolger

Die franzsische Buchhandlung Zadig in der Linienstrasse141 in Berlin Mitte.
Die franzsische Buchhandlung Zadig in der Linienstrasse141 in Berlin Mitte.

© Kai-Uwe Heinrich

Der Buchladen als Ort gesellschaftlicher Begegnungen, als Treffpunkt für Frankophile – gibt es das heute noch in Berlin? Jedenfalls gibt es inzwischen wieder eine französische Buchhandlung. Patrick Suel führt sie, in der Linienstraße in Mitte. Sie heißt „Zadig“, wie der Held aus Voltaires Erzählung „Zadig oder das Schicksal“. Beim Öffnen der Glastür gibt es diesen kurzen Moment der absoluten Stille, die fast nur in Buchläden vorkommt, wenn die Besucher aufhören zu blättern, die Assistentin ihr Tastaturtippen unterbricht und der Inhaber hinter seinen Zetteln und Bestellungen aufblickt, um die Ruhe in diesem Fall schließlich mit einem „Bonjour“ zu durchbrechen.

Die Parallelen zwischen dem Maison du Livre und dem Zadig hätten ihn erstaunt, sagt Suel. Wie einst Frenkel stellte auch er bei seiner Ankunft in Berlin fest, dass es in der Stadt keine französischen Buchläden gab. Bis er vor 13 Jahren sein Geschäft eröffnete, das heute die einzige französische Buchhandlung in Berlin ist. Beim Lesen von Frenkels Erinnerungen, sagt Suel, habe er seinen Laden wiedererkannt. Barbusse, Crevel, das seien Autoren, die er selbst gerne einladen würde, wenn sie denn noch lebten, und genau wie einst bei Frenkel verkehre auch in seinem Geschäft ein gemischtes Publikum aus Franzosen und Frankophilen. „Die Treue, die die Berliner Frankophilen dem Maison du Livre entgegenbrachten“, sagt Suel, „spüren wir auch im Zadig.“

Ihn erstaunt, dass er vor dem Erscheinen von Frenkels Erinnerungen nie vom Maison du Livre gehört hat. Und das, obwohl er, bevor er seinen Laden eröffnete, Marktforschung betrieb, mit Interessierten und Experten aus der Branche sprach. Nicht ein einziges Mal fiel dabei der Name seiner historischen Vorläuferin – wunderlich, findet Suel.

Das Interieur im Zadig ist aus hellem Holz, geordnete Bücher füllen Regale und Auslagen. Ganz vorne, am Eingang, ist als „Coup de cœur“, als „Herzenstipp“, die französische Ausgabe von Frenkels Buch ausgelegt. Als Referenz an den französischen Geist, dem sich der Inhaber so verpflichtet fühlt wie einst Frenkel? „Absolut“, sagt Suel, „das ist meine Mission.“ Im Unterschied zu damals aber sei das, was man als französisches Denken verstehen könne, heute auch Teil des Berliner Denkens: „die Offenheit, die Großmut“.

Frankophonie versteht Suel als etwas zutiefst Europäisches, etwas Einigendes. Fremd ist ihm der Exklusivismus, den das höfische Verständnis der französischen Sprache ausmacht. Zu Frenkels Zeiten einte die Nähe zur französischen Sprache die europäische Elite. Heute, sagt Suel, spiele die Sprache nur noch eine kleine Rolle für Intellektuelle in Berlin und Europa. Deren Denken aber habe noch immer den Esprit von Rabelais, Molière, Voltaire. Oder, wie es Suel auf der Homepage seines Ladens ausdrückt: „ Zadig ist eine französische Buchhandlung im europäischem Geiste.“

Berlin, Pariser Platz

Pariser Platz, an der Französischen Botschaft
Pariser Platz, an der Französischen Botschaft

© Kai-Uwe Heinrich

Auf der Suche nach dem Frenkel’schen Geist im heutigen Berlin liefern die neu herausgegebenen Lebenserinnerungen der Buchhändlerin einen weiteren Anhaltspunkt. Im Nachwort dankt der Verlag dem „Bureau du Livre in Berlin“ für seine Unterstützung. Die Institution sitzt in der Französischen Botschaft am Pariser Platz, genauer gesagt in einem Büro im zweiten Stock, das bis in die letzten Ecken mit Büchern und Verlagsprogrammen vollgestellt ist. Dazwischen steht der Schreibtisch von Myriam Louviot. Das Bureau du Livre, für das sie arbeitet, ist in der Kulturabteilung der Botschaft für Literatur zuständig, Louviot berät deutsche Verlage, die französische Bücher übersetzen wollen, und französische Verlage, die etwas über den deutschen Buchmarkt wissen wollen. Zusammen mit ihren Kollegen organisiert sie außerdem Lesungen, Autorenreisen, informiert über Stipendien, über Literaturpreise.

„Mir persönlich ist wichtig, dass ein umfassendes Frankreichbild geschaffen wird, abseits von Bretagne, Eiffelturm und Bistro“, antwortet Louviot auf die Frage nach dem französischen Geist in Berlin. Ihre Aufgabe ist es, deutschen Verlagen die zeitgenössische französische Literatur schmackhaft zu machen, nicht nur jetzt, im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2017, bei der Frankreich das Gastland sein wird.

Deutschland schätze, sagt Louviot, an der französischen Literatur und dem Denken zwei Extreme. Auf der einen Seite die Gesellschaftskritik: Simone de Beauvoir, Gilles Deleuze, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Jean-François Lyotard, auch neuere Philosophen wie Alain Badiou, den 80-jährigen Marxisten, der Anfang des Jahres vor dem ausverkauften Maxim-Gorki-Theater dozierte. Und natürlich Romanautoren wie Michel Houellebecq, den mit Abstand bestverkauften französischen Schriftsteller in Deutschland. Auf der anderen Seite stünden Bücher, die den deutschen Hunger nach französischer Lebensart stillen: Bretagne-Krimis, Bistro-und-Eiffelturm-Romanzen, historische Provence-Klamotten.

An der Literatur lasse sich das Bild, das ein Land von einem anderen hat, besonders gut ablesen, sagt Louviot. Auch die gegenseitigen Klischees spiegeln sich hier: Houellebecq, der laute Franzose mit dem Weinglas im Bistro, Foucault, der sozialistische Denker, Beauvoir, die Feministin. Und andersherum? Besonders gut verkauft, neben deutschsprachigen Bestsellerautoren wie Juli Zeh, Judith Herrmann und Daniel Kehlmann, werden in Frankreich seit vielen Jahren Ernst Jünger sowie der Österreicher Stefan Zweig. Macho-libertäre Militaristen und schwerherzige Romantiker – sieht Frankreich so die deutschsprachige Welt?

1. April 1933, Tag des "Judenboykotts"

Glamour. Auch Colette, Varietékünstlerin und Autorin aus Paris, verkehrte bei Berlin-Aufenthalten im Maison du Livre.
Glamour. Auch Colette, Varietékünstlerin und Autorin aus Paris, verkehrte bei Berlin-Aufenthalten im Maison du Livre.

© ullstein bild

Zu Frenkels Zeiten ganz sicher. Rund um das Maison du Livre verdunkelt, verroht und verpöbelt damals Deutschland. Die Anziehungskraft, die die Buchhandlung in der Passauer Straße auf literaturaffine Menschen aus der ganzen Stadt ausübt, bleibt der Obrigkeit nicht verborgen. Bei einem Besuch der Kriminalpolizei wird Frenkel 1933 beschuldigt, genau das zu tun, was sie stets stolz für sich in Anspruch genommen hat: französischen Geist zu versprühen. Nicht als Jüdin wird sie anfänglich verfolgt, sondern als Agentin der französischen Propaganda. Obwohl sie ahnt, dass es nicht der letzte Besuch dieser Art sein wird, bleibt sie damals in Berlin.

Nach der Kriminalpolizei kommt die Hitlerjugend. Es ist der 1. April 1933, der Tag des großen „Judenboykotts“. Weil sie einen ausländischen Laden führt, der unter dem Schutz der französischen Verlage und der Botschaft steht, bleibt Frenkel verschont. Doch nach und nach verschwinden die Zeitungen aus ihrem Maison du Livre, irgendwann gibt es nur noch eine einzige, am Ende auch die nicht mehr. Auch der Buchbestand schrumpft, immer weniger darf verkauft werden, immer mehr gilt als „ausländische Propaganda“. Madame Frenkel bleibt trotzdem in Berlin, auch dann noch, als ihr Mann 1933 die nötigen Papiere zur Ausreise bekommt und das Land verlässt. Sie bleibt, als 1935 die Nürnberger Rassengesetze in Kraft treten, sie bleibt, als sich in ihrem Hinterhof SA-Leute zu treffen beginnen.

Frenkel bleibt auch noch, als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 „Schutzmänner“ die Scheiben der umliegenden Läden einschlagen, als die Papeterie im Nachbarhaus brennt, selbst als die Synagoge in der Passauer Straße 2 in Flammen aufgeht und der Wind eine verbrannte Thorarolle an Frenkels Haustür vorbeiweht.

„Ich stand noch immer da“, schreibt Frenkel. „Ich spürte, wäre es notwendig gewesen, ich hätte jeden einzelnen Band mit aller Kraft verteidigt, ja, sogar mit meinem Leben, nicht nur aus Anhänglichkeit an meine Buchhandlung, sondern vor allem aus einem ungeheuren Ekel vor dem Leben und vor der Menschheit, aus grenzenloser Sehnsucht nach dem Tod.“

Und dies schreibt sie: „Die aus den Fenstern geworfenen Waren wurden von der Menschenmenge fortgetragen. Möbel, Klaviere, Lüster, Schreibmaschinen, Berge von Waren lagen auf den Trottoirs; Glas- und Spiegelscherben bedeckten buchstäblich die Chaussee.“

Und auch dies: „Hunderte Meter Stoff hingen aus Kaufhausfenstern, wie Wahrzeichen von Schändlichkeit und Bestialität.“

Zurück zum KaDeWe, Passauer Straße

Heute blicken die Schaufenster des KaDeWe ganz unversehrt auf die Passauer Straße. Dort, wo einst das Maison du Livre stand, führt eine letzte Spur aus der frankophilen Vergangenheit in die Berliner Gegenwart. Auf historischen Karten ist zu erkennen, dass das Haus mit der Nummer 39a, in dem Frenkel einst ihre Bücher verkaufte, leicht von der Straße nach hinten versetzt stand, also etwa dort, wo sich heute ein verglaster Aufzug befindet. Der transportiert die Kunden aus dem Parkhaus unter anderem in den vierten Stock des KaDeWe, zu einer Hugendubel-Filiale.

Entschuldigung, haben Sie vielleicht französische Bücher? Die Verkäuferin zeigt in eine Ecke, ein kleines Regal gibt es da, halb französisch, halb spanisch befüllt. Albert Camus, Kamel Daoud, Michel Houellebecq. Auch „Une femme à Berlin“ gibt es hier, die französische Übersetzung des ursprünglich deutschsprachigen Tatsachenromans „Eine Frau in Berlin“ von Marta Hiller. Daneben steht Patrick Modiano, der Nobelpreisträger, der das Vorwort für die Neuausgabe von Frenkels Buch geschrieben hat.

Eindrücklichste Szene seines Romans „L’Horizont“ zusammengefasst: Eine Russin, die in Frankreich studiert hat, führt in Berlin einen französischen Buchladen, erst am Savignyplatz, dann in der Kreuzberger Dieffenbachstraße. Erscheinungsjahr der Erstausgabe: 2010, also noch vor der Wiederentdeckung von „Rien où poser sa tête“. Ein unwahrscheinlicher Zufall?

Liest man beide Bücher im Vergleich, scheint es fast, als könne man aus Frenkels Buch den schwerelosen Stil von Modiano herauslesen – als sei Françoise Frenkel, diese Person, von der es kein Bild gibt, keine genauen Daten und kaum Übriggebliebenes, am Ende eine Erfindung eines Literaturnobelpreisträgers. Alle Gesprächspartner haben den phantomhaften Charakter des Buchs betont, das Mysteriöse seiner Publikationsgeschichte, auch die Merkwürdigkeiten der Autorin Frenkel, die im Buch weder sich selbst beschreibt noch mit einem Wort ihren Mann erwähnt, der den Buchladen fast zehn Jahre lang mit ihr gemeinsam führte.

Auf der haltlosen, undeutlichen Suche nach Frenkel und ihrem Wirken in der Stadt scheint man sich am Ende nur auf ihre eigenen Aussagen verlassen zu können, auf die Worte, die nachzulesen sind. Ihnen zufolge verteidigte Frenkel ihr Maison du Livre bis zum letzten Moment, bis im August 1939 der Nachbar rief: „Sie kommen!“ Erst da packte Madame Frenkel ihren Koffer und floh. Die von einem Grenzbeamten verächtlich hingeworfene Bemerkung „Nicht-Arier“ war das letzte Wort, das sie in Deutschland hörte. Sie kehrte nie mehr zurück.

1943 brannte das KaDeWe aus, das Feuer zerstörte auch die umliegenden Gebäude. Als der Krieg zu Ende war, stand in der Passauer Straße kaum noch etwas. Die letzten Spuren verschwanden beim Wiederaufbau.

Beim Verlassen des KaDeWe, diesmal durch den Haupteingang, mit dem Blick auf den heute etwas trostlosen Tauentzien, kommt wieder kurz dieses Gefühl auf, einer raffinierten Lüge aufgesessen zu sein, einer von Zufällen und Unwahrscheinlichkeiten durchdrungenen Geschichte, die so unprüfbar wie rekonstruktionsscheu ist. Und vielleicht ist es genau das, was dieses Buch so faszinierend macht.

Françoise Frenkels Buch „Nichts, um sein Haupt zu betten“ ist erschienen im Carl Hanser Verlag (288 Seiten, 22 Euro).

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